Die Reichsjusuzgeseze. Verständigung. Drine Lesung. 145
Uberblickt man alle diese Fragen, welche im Dezember 1876 nur infolge der
äußersten Anstrengung der nationalliberalen Partei, und beim Bundesrate nur infolge
der persönlichen Einwirkung Bismarcks, durch beiderseitige Nachgiebigkeit der zwei
gesetzgebenden Körperschaften befriedigend ausgeglichen wurden, so begreist man kaum,
daß Zentrum und Fortschritt die großen Justizgesetze lieber scheitern lassen wollten,
als daß sie dem „Verrat“, der „Gesinnungsverlengnung“, dem „Unglaublichen“ zu-
stiumten, die in dem oben mitgeteilten Kompromiß der Nationalliberalen begangen
und verbrochen sein sollten. Auch der Jurist muß bei ruhiger Abwägung aller dieser
Fragen sie für mehr oder minder interessante wissenschastliche Streitfragen erklären,
aber ohne jede grundstürzende Bedentung für die Staats= und Gesellschaftsordnung
einerseits, für die Freiheit und Volksrechte anderseits. Dem Laien vollends, dem
Reichsbürger, für welchen doch die Gesetze hauptsächlich gemacht werden, war schon
in den bewegten Dezembertagen des Jahres 1876 das Verhalten des Zeutrums und
der Fortschrittspartei unfaßbar, welche in dritter Lesung im Reichstag vom 18. bis
21. Dezember das Kompromiß der Nationalliberalen mit einer Trauerklage über den
Verfall aller männlichen Tugenden im Deutschen Reiche beantworteten. „Moloch
weinte und wollte ein Opfer haben. Moloch erhielt sein Opfer. Moloch hat von
seinen nationalliberalen Hohenpriestern noch kein Opfer vergebens gefordert!““ So
wimmerte Ende 1876 die fortschrittliche und ultramontane Presse. Und der fort-
schrittliche Wahlaufruf zu den Reichstagswahlen vom Januar 1877 begaun mit den
düsteren Worten: „Das Unglaubliche ist geschehen!““ Damit war abermals diese
nationalliberale Schandthat gemeint, die lieber vier allerwichtigste Gesetze zu stande
brachte, als auf einige radikale Liebhabereien sich versteifte. Bis in unsere Tage
hinein ist dann freilich weiter „das Unglaubliche geschehen“, daß während der lang-
jährigen Wirksamkeit der deutschen Justizgesetze keine einzige von allen in jenem so
übel verschrieenen Kompromiß festgelegten Bestimmungen jemals seither bei irgend
jemand auch nur den geringsten Anstoß erregt hat. Das sagten übrigens schon am
18. und 20. Dezember 1876 Bennigsen, Miquel und Lasker den Gegnern voraus.
Namentlich wurde die Fortschrittspartei daran erinnert, daß sie gegen die Annahme
der norddemschen Bundesverfassung, der deutschen Neichsversassung und der Militär-
vorlage von 1874 gestimmt habe, daß sie damals ganz dieselben Vorwürfe und An-
klagen gegen die Mehrheit schleuderte, Vorwürfe und Auklagen, die verweht seien
wie Wind. Mit größter Mühe seien in achtjähriger Arbeit drei Gesetze vereinbart,
bei denen in Tausenden von Paragraphen eine volle Ubereinstimmung zwischen der
Regierung und dem Reichstag erreicht worden; in keinem einzigen aller dieser Punkte
sei ein Rückschritt gegen den bisherigen Zustand nachweisbar, in einer großen Anzahl
wichtiger Punkie dagegen umverkennbare Fortschritte. Wenn man dem gegenüber auf
einige wenige noch weiter erstrebte Reformen verzichte, um das Errungene im ganzen
zu sichern, so könne man das gute Bewußtsein haben, dem Lande einen bedentenden
Dienst zu leisten.
„Nimmer kann doch der Reichstag verlaugen, allein Gesetze zu machen!“ rief Bennigsen.
„Das ist eben die innere Unwahrheit, das die Fortschriktsparlei mil dieser falschen Forderung
lum, Das Teutsche Neich zur Zeu Bismarcks. 10