146 I. 9. Der innere Ausban des Reiches. Die deutsche Rechtseinheit. (1872 —78.)
das öfsenlliche Urleil verwirrt und dadurch ein frendiges Gefühl über die Wirksamkeit im neuen
Reiche nicht auskommen läszt. Das Voll und die Wähler werden der Mehrheit dieses Reichslags
Recht geben, wenn dieselbe sagl: nachdem die Regierung uns so weilt entgegengekommen iss,
wollen auch wir den Schrikt thun und mit der Regierung das Werk zu flande bringen, dns zum
erstenmal in Deutschland die sicheren und unerschutterlichen Grundlagen der Rechtseinheit bildel.“
Daß auch die große Mehrheit des Reichstags diese Anschauung teilte, bewies die
Schlußabstimmung am 21. Dezember. Der Vermittelungsantrag Bennigsen (das
Kompromiß) war schon vorher mit 198 gegen 146 Stimmen angenommen worden.
Die Endabstimmung ergab sogar fast Zweidrittelmehrheit (194 gegen 100 Stimmen)
für das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strasprozeßordnung; Einstimmigkeit für die
Zivilprozeßordnung und die Konkursordumg. In bedeutsamer Weise sprach sich die
Thronrede des Kaisers beim Schlusse des Reichstags am 22. Dezember hierüber aus:
„Das Gefühl des Dankes für die Bereitwilligkeit, mit welcher Sie, geehrte Herren,
den verbündeten Regierungen zu dieser Verständigung entgegengekommen sind, ist in
Mir um so lebhafter, je höher Ich den Gewimn anschlage, welcher aus dem Gelingen
dieses Werkes für unser nationales Leben erwachsen muß.“
Durfte die nationalliberale Partei das Hauptverdienst für das Zustandekommen
dieses großen Gesetzgebungswerkes für sich in Anspruch nehmen, so sorgte die Partei-
leitung auch durch ein am 24. Dezember verbreiteles Flugblatt dafür, das Volk über
die hohe Bedentung und den mächtigen Fortschritt der IJustizgesetze anszuklären und
das hohle Geschrei der Gegner über die angebliche Preisgebung von Volksrechten 2c.
wirkungslos zu machen. Nachdem die großen Fortschritte und Vorzüge der Zivil-
prozeßordnung, Konkursordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Stras-
prozeßordmung ausgezählt sind, schließt diese Denkschrift:
„Auf Grund dieser grosten Neichsgesetze wird in Zukunft in allen deulschen Landen von
gleichmäßig und umabhängig besetzten Gerichten gleiches Recht für alle gesprochen werden. Die
gleichen Vorschristen über das Verfahren werden überall gelten. Jedermann ans dem Volke
wird die Gesetze handhaben und verstehen lernen, nicht blost rechtsgelehrte Juristen. Dem Han-
del und Verkehr wird dadurch grosze Förderung zu teil. Das bereils geschaffene einheilliche
Verkehrsleben wird erst durch das einheitliche Rechlsleben zur vollen Gellung gelangen. Erst
jetzt ist die Herstellung eines einheitlichen bürgerlichen Rechts, an welchem schon heule bewäbrte
Kräste im Austrag des Reiches arbeilen, möglich. Alle deutschen Gerichte leisten sich Rechtshilse.
Das deutsche Volk mag sein Urkeil fprechen, ob solche Gesetze um kleiner Streitpunkic willen
hätien scheilern sollen? Ob dem Volke mehr die Politik friedlicher Einigung mit den Negierun-
gen auf den für Einheit und Freiheit günstigen Grundlagen, oder die Potilik des Konflilts
frommt? Kußere Gesahren und innere Konslikte haben wir genug. Das deutsche Voll wird
nicht wollen, daß seine Verkreler mutwillig neue suchen!“
Die Ergänzungsgesetze, welche zu dieser Gruppe von Juslizgesetzen gehörten, die
Rechtsanwaltsordnung und die Gebührengesetze (für die Gerichte, Rechtsanwälte,
Gerichtsvollzieher, Zeugen und Sachverständigen), kamen in den solgenden Jahren,
wie bereits bemerkt, mühelos zu stande. Eine lebhafte Meinungsverschiedeuheit im
Bundesrate sowohl wie im Reichstage erregte nur das Sondergesetz, welches den Sit
des Reichsgerichts bestimmte. Preußen, welches begreiflicherweise das Neichsgerichl