172 I, 10. Der innere Ausban des Reiches. Volkswirkschaftl. Entwickelung u. Geseygebung.
das Gebiet derjenigen politischen Heuchelei, die man auf politischem Gebiet für erlaubt
hält und sich und andern verstattet.“
Kein Wunder, daß unter diesen vergeblichen Mühen für eine Reichssteuer-
reform und bei dem fortdanernden Anwachsen des Reichsmilitärbudgets und den
schweren Nachwirkungen des Krachs im deulschen Geschästsleben die verschiedensten Par-
teien auf wirtschaftlichem Gebiete sich regten und sich mit ihren Natschlägen an die Reichs-
regierung und insbesondere an den Fürsten Bismarck herandrängten, da dieser oftmals
erklärt hatte, daß er in volkswirtschaftlichen Dingen „sich nach der besseren Einsicht
Delbrücks richte“ und jeder anderen Belehrung zugänglich sei. Delbrück und die preu-
Phischen Minister, namentlich Camphausen, sind freilich von dem Vorwurf nicht ganz
freizusprechen, daß sie die Neichssteuerreform nicht mit größerer Energie und Plan-
mäßigkeit und zur richtigen Zeit (in den Milliarden-Jubeljahren) betrieben. Da regten
sich denn vor allem die Schutzzöllner, welche die Verheerungen des Krachs auf
dem Gebiete der dentschen Großindustrie nicht der eigenen planlosen und ausschweisen-
den Uberprodnktion, sondern einfach dem Freihandelssystem und der heillosen liberalen
Gesebzgebung zuschrieben. Sie versprachen sich und dem Neiche von Zollerhöhungen
goldene Berge, während die Reichsregierung unter Delbrücks beherrschendem Einfluß
vornehmlich nach einigen großen, ergiebigen Finanzzöllen strebte. Daß auch Fürst
Bismarck diesem Streben Delbrücks etwa bis 1877 noch huldigte, ergeben seine Reden
aus jenen Jahren. So sagte er am 22. November 1875 im Reichstage, in derselben
Rede, in welcher er sich gegen das Fortbestehen der Matrikularbeiträge aussprach:
„Ich erkläre mich von Hans aus für indirekte Sleuern und halte die direkten für einen har
len und plumpen Nolbehelf nach Ahnlichkeit der Matriknlarbeiträge, mit alleiniger Ausnahme.
ich möchte sagen, einer Anstandssteuer, die ich von den direkten immer aufrecht erhalten würde,
das ist die Einkommenstener der reichen Leute, aber wohlverstanden nur der wirklich reichen Leme.
Das Idcal, nach dem ich strebe, ist, möglichst ausschließlich durch indirekte Stenern den Staats
bedarf aufzubringen.. Ich bin der Meinung, daß wir in unseren Zöllen, ganz unabhängig
von der Frage, wie hoch jedes einzelne bestenert werden soll, uns doch frei machen von dieser
zu grosten Masse von zollpflichtigen Gegenständen, daß wir uns auf das Gebiet eines reinen, ein
fachen Finanzzollsystems zurückziehen und alle diejenigen Arlikel, die nicht wirklich Finanzzölle
sind, d. h. nicht hinreichenden Ertrag geben, über Bord werfen.“
In ähnlicher Weise sprach sich der Fürst auch in seiner gleichfalls bereits früher
erwähnten Nede vom 10. Januar 1877 aus. Auch hier bezeichnete er noch als die
Grundlage jeder Steuerreform des Reiches:
„daß wir die Stenern in einer Weise kombinieren, die auf der einen Seite Erleichterung, auf
der anderen Seite neue Einnahmeqnellen schafft“. Deshalb hatte er sich auch dagegen erllärt,
einstweilen den Tabal höher zu bestenern. Er wolle lieber noch eine Budgetperiode hindurch
die Unannehmlichkeit zu hoher Matrikularbeiträge tragen, „als die Steuerreform dadurch schädi-
gen, daß man einen der besten und wesentlichsten Artikel, von dessen Schwimmkraft ich erwarte,
daß er andere vielleicht mit tragen werde, vorwegnehme, was uns nachher obhalten würde. eine
gründliche Reform, von deren Notwendigkeit ich so überzeugt bin wie irgend einer von Ihnen,
vorzunehmen. Die lüberzengung hat sich bei mir festgesetzt, dast wir Ihnen mit einer einzelnen
Stener ohne eine Resorm nicht mehr kommen dürfen.“