Full text: Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks.

4 I, 1. Kaiser und Reich. 
ein Zeichen, daß hier im Kerm von Europa ein Volk wohnt, dessen Stärke die Ein- 
tracht, dessen Ehrgeiz die friedliche Arbeit, die Förderung der Völkerwohlfahrt, schöner 
Menschensitte und jeder Freiheit ist. 
In diesem Geiste ward die deutsche Kaiserwürde erneuert. Auch der erlauchte 
Heldengreis bekundete es, als er am preußischen Krömmgstage, am 18. Januar 1871, 
im Theatersaale zu Versailles, umgeben von den Prinzen seines Haufes, von deutschen 
Fürsten, von Staatsmännern und Heerführern, die Kaiserkrone entgegennahm. Denn 
in seiner Botschaft an das deutsche Volk sagte er: „Wir übernehmen die Kaiserliche Würde 
in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glie- 
der zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die 
geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß 
dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfernnigen 
Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem 
Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen ernente Angrisse Frank- 
reichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott 
verleihen, allezeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Erobe- 
rungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler 
Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“ 
Ebenso eimnütig wie bei Ernenerung der deutschen Kaiferwürde waren die deut- 
schen Fürsten, war die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes auch über die 
Verfassungsgrundlage des neuen Deutschen Reiches. Diese Grundlage 
stand deutlich vor aller Augen in der norddeutschen Bundesverfassung. Der mäch- 
tigste Monarch Süddentschlands, der König von Bayern, war der erste, welcher diese 
von allen klar erkannte Notwendigkeit in rühmliche That umsetzte, indem er schon im 
September 1870 seine Bereitwilligkeit erklärte, Bayern dem Norddeutschen Bunde 
beitreten zu lassen. Vom König Ludwig von Bayern war anfangs Dezember 1870 
auch die erste Anregung zur Ernenerung der deutschen Kaiserkrone ausgegangen. Frei- 
lich vermochte auch ein Wittelsbacher im Rahmen der bisher nur für den Norddeutschen 
Bund geltenden Verfassung die königlichen Rechte seines hohen Hauses wohl zu bergen 
und zu behaupten. Denn diese Verfassung hatte sich seit 1867 wunderbar bewährt. 
In genialer Weise hatte der eiserne Bundeskanzler in diesem seinem Bau zu friedlich- 
einträchtigem Wirken für das gemeinsame Vaterland die berechtigte Hoheit und Frei- 
heit deutschen Fürstentiuns, deutscher Volksstämme und zugleich die notwendigen Rechte, 
Forderungen und Leistungen der Gesamtheit, des Bundes und Reiches vereinigt. 
Damit war die schwerste Aufgabe unserer geschichtlichen Entwickelung gelöst. Unter 
dem scheinbar unversöhnlichen Zwiespalt, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, 
den Landesfürsten und Stämmen das Ihrige, war unseres Volkes Macht und An- 
sehen seit Jahrhunderten tiefer und tieser gesunken. Bismarck mußte geboren werden, 
lernen und reisen im Elend der deutschen Verhältnisse von 1815—1848 und von 
1850— 1866, um die tausend losen Fäden unseres Daseins zu jenem kunstvoll kühnen 
und doch so naturgemäßen und darum unlöslichen Gewebe zu vereinigen, welches wir 
seither die Verfassung des Norddentschen Bundes und Deutschen Reiches neunen.
	        
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