Full text: Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks.

272 I. 14. Die Sozialdemokratie bis 1878. 
großartigen und sehr bequemen Erklärung begnügt: „Es ist mit unserer Würde nicht 
vereinbar, in die Diskussion eines Gesetzes einzutreten, das ein beispielloses Attentat 
auf die Vollsfreiheit ist.“ 
Ein neues furchtbares Ereignis trat hinzu, welches die peinliche Lage, die durch 
Ablehnung des ersten Sozialistengesetzes geschaffen war, noch unendlich verschärste. 
Am 2. Juni nämlich, nachmittags gegen 3 Uhr, einem Sonntag, fuhr der Kaiser die 
Straße Unter den Linden entlang, als plötzlich aus dem Hause Nr. 18 zwei Flinten- 
schüsse sielen, welche den Kaiser am Kopf, an beiden Armen und im Rücken durch 
etwa 30 eingedrungene Schrotkörner schwer verwundeten. Eine unbeschreibliche Trauer 
und Aufregung bemächtigte sich zunächst der Augenzeugen der entsetzlichen That. Sie 
können den Anblick nicht herzzerreißend genug schilderm, wie der Kaiser blutend, auf 
den Jäger gestützt, im ossenen Wagen langsam seinem Schlosse entgegenfuhr. In 
wenigen Stunden hatte die furchtbare Kunde die fernsien Teile der Erde erreicht und 
überall dieselbe von Zorn und Schmerz gemischte Bestürzung hervorgerusen. Alle 
Mitglieder des kaiserlichen Hauses eilten sofort aus der Nähe und Ferne an das Leidens- 
lager. Alle hohen Staatsbeamten, die von BVerlin abwesend waren, an ihrer Spitze 
Fürst Bismarck, kehrten sofort nach Verlin zurück. 
Von den Augenzeugen aber, welche die Schüsse auf den Kaiser vernommen und 
die Verwundung mit angesehen hatten, stürmte ein Teil sosort in das Haus Nr. 18 
Unter den Linden, nach dem zweiten Stockwerk, aus dem die Schlüsse gefallen waren. 
Die Thür zu dem Zimmer, in welchem der Mörder verweilen mußte, war verriegelt 
und verschlossen. Dieselbe wurde eingetreten. Ehe dies gelang, hörte man im Zimmer 
einen neuen Schuß fallen. Die Eingedrungenen fanden einen im Gesicht biutüber- 
strömten Menschen am Ofen stehen, welcher auf seine Verfolger aus einem Nevolver 
feuerte und einen der vordersten, den Hotelier Holtseuer, verwundete. Leutnant 
Wilhelmy schlug dem Menschen mit dem Degen den Nevolver aus der Hand. 
Nun wurde der Mörder überwältigt. Den Schuß, welchen man vor dem Eindringen 
in das Zimmer vernommen, hatte der Verbrecher gegen sich selbst gerichtet und sich 
in den Kopf über der rechten Schläse getrossen. Er war aber nach seiner Einlieferung 
in das Polizeigesängnis auf dem Molkenmarkt noch vernehmungssähig und gestand 
dem Untersuchungsrichter Johl, daß er den Entschluß, den Kaiser zu töten, schon seit 
acht Tagen gefaßt und seit dem Freitag schon die beiden Läuse des Gewehrs mit Schrot 
geladen habe, um besser zu tressen. Er habe seit Weihnachten sozialdemokratische Ver- 
sammlungen in Berlin besucht, weil deren Grundsätze ihm gefallen hätten. Der Ver- 
brecher war der Dr. phil. und Landwirt Karl Ednard Nobiling, am 10. April 
1848 zu Kolno bei Birubanm geboren. Also auch dieser Mensch hatte den Frevelmut 
zur Ermordung des Vaters des Vaterlandes aus sozialdemokratischen Brandreden ge- 
wonnen. Dieses Zugeständnis stand fest, als der Gesundheitszustand des Verbrechers 
gebot, das Verhör mit demselben abzubrechen. Die Arzte stellten eine Gehirnverletzung 
fest. Nachts 11 Uhr trat Bewußtlosigkeit ein. In diesem Zustande verblieb der Misse- 
thäter sast ohne Unterbrechung, bis am 10. September 1878 insolge von Blut- 
vergistung sein Tod eintrat.
	        
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