316 II, 1. Fürst Bismarcks nalionale Wirtschaftspolitik 1878—79.
in jener Denkschrift entwickelt habe, welche den „ohnehin wohl nicht immer aufrich-
tigen“ (Poschinger a. a. O., S. 151) Klagen über die Unklarheit seiner finanziellen
Absichten ein für allemal ein Ende machte. Von besonderem Interesse war in diesem
Falle das Urteil des Auslandes. Es verbarg die Beängstigung nicht, welche Bis-
marcks Denlschrift durch die ernstliche Bedrohung aller ausländischen Interessen in
hohem Grade erzeugte. Das Ausland erkannte aber gleichwohl rückhaltslos an, daß
Bismarck ein durch und durch praktischer Staatsmann sei, allen Parteien und Partei-
führern unendlich überlegen, weil er vorurteilslos mit den Gegnern rechne. Bei
genauerer Prüfung der Denkschrift mußten auch die seindlich sich gegenüberstehenden
Wirtschaftsparteien, Freihändler und Schutzzöllner, einräumen, daß Bismarck im
Grunde den goldenen Mittelweg des Staatsmannes, welcher nur das Gesamtinteresse
der ganzen Nation vertreten kann, in seiner Denkschrift eingehalten habe. Denn die
Schutzzöllner mochten mit dem Grundsatze der allgemeinen Zollpflichtigkeit und mit
dem Voranstellen der finanziellen Ziele der Vorlage, welche einem durchgreifenden
Zollschutz zu widersprechen schienen, nicht ganz zufrieden gestellt sein und sich enttäuscht
fühlen. Immerhin aber trugen sie den großen Gewinn davon, daß der mächtigste
Staatsmann Deutschlands den Schutz der nationalen Arbeit auf dem Wege einer um-
fassenden Revision des Zolltariss verkündet hatte. Die einzelne Ausgestaltung dieser
Grundsätze war Sache der künftigen Beratung im Reichstag. Die Freihändler ihrer-
seits konnten aus der starken Betommg der finanziellen Neichsbedürfnisse in der Denk-
schrift den Schluß ziehen, daß jedenfalls auch den extremen, auf die Hinderung der
Einfuhr fremder Waren gerichteten Bestrebungen eine Grenze gesetzt werde. Und die
in der Denkschrift vorgesehene, ziemlich dehubare Ausnahme von der allgemeinen Zoll-
pflichtigkeit ließ der Hossfnung Spielraum, daß die hauptsächlichen Rohstoffe auch ferner-
bin zollfrei bleiben würden.
Aber die Leidenschaften feindlich entgegenstehender Interessen und Parteien
verweilten nicht bei dieser ruhigen Prüfung der Deulschrift. Während Bismarck selbst
für seine Schrift unzählige Huldigungen empfiug, für welche er meist persönlich dankte,
um seine Anhänger zu fammeln, zu ermutigen und anzuspornen, „stürmten auf den
Bundesrat und demnächst auch auf den Reichstag von beiden Seiten Bittschriften ein,
von denen die einen den Jammer der Gegemwart, die anderen das Elend der Zukunft
darstellten, alle zusammen mit der Neigung zu mehr oder weniger derber Ubertreibung“.
(Böttcher a. a. O., S. 229/30). Die Schutzzöllner, als die des Ersolges Sicheren,
befleißigen sich dabei allerdings eines geräuschloseren Gebarens. Dagegen setzen die
im Besitze bedrohten Freihändler, voran die Seestädte, laut alle Kräfte in Bewegung.
Die ihnen damals anhängende Mehrheit der wissenschaftlichen Nationalökonomen tritt
ihr als Nufer im Streite zur Seitc. Die Freihandelspartei weist mit Nachdruck darauf
hin, daß Bismarck selbst in seiner Denkschrift zugestanden habe, Schutzzölle für ein-
zelne Industriezweige müßten wie ein gehässiges Privilegimm wirken. Sie bezeichnet
daher den Zollschutz für die gesamte inländische Produktion als ein gehässiges Privi-
leginm gegenüber den Konsumenten und weist ihn als unstatthafte Staatshilsfe zurück.
Düster blickt der Freihandel in die deutsche Zukunft. Denn namentlich in Norddeutschland