Die Invaliden- u. Altersversorgung. Annahme des Gesetzes (1889). 435
„Wie schon früher jede Kritik der Vorlage willkonnmmen gewesen sei, so erbäten sich die verbün-
delen Regierungen auch jetzt ausdrücklich Gegenvorschläge, welche gewissenhaft berücksichtigt wer-
den würden, von welcher Seite sie auch kämen. Der Entwurf versuche nur eine Lösung aller der
schwierigen Fragen dieser Gesetzgebung, aber die Regierung werde allen Vorschlägen zustimmen,
welche ihr zweckmäßig erschienen und als praktisch erwiesen seien.“
Ganz in demselben Sinne sprachen sich die Nedner der Mehrheitsparteien,
Buhl, von Helldorf und Leuschner aus. Selbst das Zentrum stimmte durch den
Abgeordneten Hitze dem Entwurfe bedingt zu. Nur die Sozialdemokraten (Grillen-
berger) und Deutschfreisinnigen (Schrader) wollten gar nichts davon wissen. Grillen-
berger erklärte offen:
„An liebsten wäre ihm, wenn die Vorlage überhaupt nicht erst an einen Ausschuß verwiesen,
sondern von vornherein abgelehnt werde. Dieser Reichstag könne doch nimmermehr ein brauch-
bares Gesetz zu stande bringen.“ Und der deutschsreisinnige Abgeordnete Schrader prophezeite
mit eigentümlichem Scharfsinn: „Das Gesetz werde, statt den sozialen Frieden zu fördern, im Ge-
genteil neue Unzufriedenheit nähren.“
Trot dieser Kassandra-Stimmen verwies der Reichstag die Vorlage an eine Kom-
mission von 28 Mitgliedern, in welcher die Sozialdemokraten bezeichnenderweise jeden
Sitz ablehnten. Der Vorsitz und die Berichterstattung der Kommission wurde ehren-
halber dem Freiherrn von Franckenstein übertragen, welcher, im rühmlichen Gegensatz
zu der Mehrheit des Zentrums, ebenso wie Reichensperger und andere lebhaft für das
Zustandekommen der Vorlage arbeitete. Ganz hervorragende Verdienste an der Durch-
beratung und Verbesserung des Entwurfes im Laufe der 44 Sitzungen der Kommission
hatten die nationalliberalen Abgeordneten Buhl, Ochelhäuser, Struckmann, Niethammer,
Siegle, Duvigneau. Schließlich wurde der von der Kommission abgeänderte Entwurf
mit allen gegen 5 Stimmen (3 vom Zentrum und 2 deutschfreisinnigen) in der Kom-
mission angenommen und am 22. März 1889 dem Reichstag wieder unterbreitet. Am
29. März begann der Reichstag die zweite Lesung, welche zwölf Sitzungen in Anspruch
nahm und, durch die Osterferien unterbrochen, bis zum 11. Mai dauerte. Am Ende
der zweiten Lesung wurde der grundlegende § 1 in namentlicher Abstimmung mit
157 gegen 72 Stimmen angenommen. Dafür stimmten die Nationalliberalen, die
Reichspartei, die Konservativen mit einer Ausnahme, 11 Zentrumsmitglieder und —
die Sozialdemokraten; dagegen die große Mehrheit des Zentrums, die Deutschfrei-
sinnigen, Polen, Welfen und Elsässer. Vom 17. Mai an erfolgte dann in 7 Sitzungen
die dritte Beratung und am Schlusse derselben, am 24. Mai, die Schlußabstimmung
unter Namensaufruf. Sie ergab die Annahme des Gesetzes mit 185 gegen 165 Stim-
men. Mit Nein stimmten 7 Deutschkonservative, 4 Freikonservative, 12 National-=
liberale, 75 vom Zentrum, der gesamte Deutschfreisinn (31), mit einziger Ausnahme
des Abgeordneten Thomsen, und sämtliche Sozialdemokraten, Polen, Elsässer und
Welsen. Die Mehrheit wurde gebildet von 65 Deutschkonservativen, 29 Freikonser-
vativen, 76 Nationalliberalen, 13 vom Zentrum, 1 Deutschfreisinnigen.
Aus den 22tägigen Reichstagsdebaiten der ersten, zweiten und dritten Lesung
heben wir nur einige besonders denkwürdige Außerungen hervor. Zunächst wenige
Stellen aus der ersten Rede des Fürsten Bismarck vom 29. Mätz:
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