Full text: Das Deutsche Reich zur Zeit Bismarcks.

Die Reichstagsmehrheiten von 1878— 88. Tod Georgs V. von Hannover., ie. 445 
Sozialdemokratie ist von 24 auf 11 Abgeordnete zurückgegangen. In ihrer Hochburg, 
im Königreich Sachsen, hat sie nicht einen einzigen Abgeordneten durchzubringen ver- 
mocht. Hier ist in den 23 Wahlkreisen des Landes überhaupt nur ein einziger (deutsch- 
kreisinniger) Oppositionsmann gewählt worden, sonst nur konservative und national- 
liberale Kartellkandidaten. Die Deutschfreisinnigen sind von 67 auf 32 gesunken, die 
Polen von 16 aufj 13, die Welsen von 11 auf 4, selbst das Zentrum hatte einen Sitz 
eingebüßt. Die gesamte Opposition versügte nur noch über 174 Stimmen, während 
die regierungsfreundlichen Parteien 222 Mitglieder zählten. Denn die Konservativen 
waren in diesen Wahlen um 2, die Freikonservativen um 13, die Nationalliberalen un 
18 Abgeordnete gewachsen. 
Dieser Uberblick über die sehr verschiedene Zusammensetzung des Reichstags 
während des Jahrzehnts von 1878—88 erschien notwendig, ehe die äußere und innere 
Polikik des Reiches während derselben Zeitspanne dargelegt wird. Denn nicht bloß 
für die innere Entwickelung des Reiches, auch für die auswärtige Politik erweist sich 
die Haltung der Reichstagsmehrheit oft von ausschlaggebender Bedeutung. 
In der auswärtigen Politik offenbart die Staatskunst des Fürsten Bismarck 
während dieses Jahrzehnts dieselbe Meisterschaft wie in den früher behandelten Zeit- 
abschnitten. Unser Bündnis mit Osterreich-Ungarn und Italien wächst immer 
inniger zusammen. Kaum vergeht ein Jahr, da nicht die Häupter oder die Glieder der 
Herrscherhäuser der drei verbündeten Reiche oder deren leitende Staatsmänner zu herz- 
lichem persönlichen Austausch ihrer Gefühle und Meinungen sich begegnen. Aber 
schon 1878 hatte dieses trauliche Einvernehmen Deutschlands mit Osterreich-Ungarn 
uns eine wertvolle Friedensfrucht eingetragen. Am 12. Juni 1878 war nämlich der 
König Georg V. von Hannover in Paris gestorben. Sein Sohn zeigie den Tod des 
Vaters dem „König von Preußen“, nicht dem Kaiser Wilhelm, in einem Schreiben 
an, welches die kollegiale Anrede trug: „Durchlauchtigster, Großmächtigster Fürst! 
Freundlich lieber Bruder und Vetter!“ und mit der majestätischen Unterschrift „Erust. 
August“, ohne Beisatz und Titel, endete. Wie das gemeint war, stand außerdem 
klar geung in dem Schreiben selbst. 
Deun der Peinz meldete, daß infolge des ihn erschütternden Trauerfalls „alle Rechte, Prä- 
rogative und Titel, welche dem Könige, seinem Vater, Überhaupt und insbesondere in Beziehung 
auf das Königreich Hannover zustanden, kraft der in seinem Hause bestehenden Erbfolgeordnung“ 
und ohne alle Rücksicht auf das, was seit 1866 geschehen war, „auf ihn, den Prinzen, überge- 
gangen"“ seien, und fuhr fort: „Alle diese Nechte, Prärogative und Titel halte ich voll aufrecht. 
Da jedoch der Auslbung derselben in Beziehung auf das Königreich Hannover thallächliche, für 
mich selbswerständlich nicht rechtsverbindliche Hindermisse enigegenstehen, so habe ich beschlossen, 
für die Danuer dieser Hindernisse den Titel: Herzog von Cumberland, Herzog zu Braun- 
schweig und Lüneburg mil dem Prädikate „lönigliche Hoheit" zu führen.“ 
Trotz des sehr wenig angemessenen Tones und Inhalts dieses Schreibens ließ 
die Herzeusgüte des Kaisers Verhandlungen mit dem Prinzen durch Bismarck führen, 
die sich jedoch an dem welsischen Starrsinn und Hochmut zerschlugen. Darauf erst 
erfolgte die Verössentlichung des prinzlichen Schreibens, das überall, außer in wel- 
sischen Kreisen, zornige Entrüstung und mitleidiges Lächeln erregte.
	        
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