32 J, 3. Erste Reichstagsverhandlungen und Reichsgesetzgebung (1871).
dieser bedarf der Staat noch einer anderen, die in dem Spruche justitia fundamentum
regnorum enthalten ist. Ob Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Gottesfurcht in dem neuen
Reiche ihre Stätte finden werden, muß sich noch zeigen.“
Der bayrische Abgeordnete Völk, selbst Katholik, gewählt in dem ganz über-
wiegend katholischen Kreise Kempten-Immenstadt, aus ärmster Jugend mit eigener
Kraft heraufgewachsen zur höchsten Ehrenstelle des deutschen Reichsbürgers; in seinem
harten Lebensgange, seiner ungewöhnlichen Beredsamkeit und seiner genauesten Keunt-
nis der Denkweise und Empfindungen der Massen Nobert Blum so ähnlich wie in
seinem Nußern; Joseph Völk, welcher den Deutschen unvergeßlich geworden war durch
sein Wort im ersten deutschen Zollparlament: „Es ist Frühling geworden in Deutsch-
land“, er übernahm die Abfertigung Kettelers und des Zentrums in jeuer kern-
deutschen Sprache, die ihm eigen war:
„Um den Kern der Frage sind die Gegner herumgegangen, wie um den heißen Brei die
Katze!“ rief er. „In Wahrheit ist diese Einmischungstheoric ganz einfach als Wahlagitations-
miltel benutzt worden. „Man müsset, riesen die gegnerischen Stimmführer, lediglich gut katho-
lische Männer in den Reichstag wählen, weil dieser die Aufgabe habe, bei der laiserlichen Re-
gierung auf eine Einmischung zu gunsten des Papstes hinzuwirken (Lärm. Die Zentrums-
männer erdreisten sich, Nein zu rusen, das übrige Haus übertönt sie mit dem lauten Ruf Ja).
Nach meiner Ansicht kann der Streit am besten dadurch beigelegt werden, dast die Klerikalen hier
össentlich ihre Mißbilligung über jenes Agitationsmitlel aussprechen“, fährt Völk unter großer
Heiterleit des Hanses sort. „Der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst ist allerdings vorhanden,
aber letzterer hat ihn seibst geschafsen. An dem Papste ist es, solchen Sätzen seine Genehmigung
nicht zu erleilen, welche ihn nolwendig in einen Konslikt mit jedem der bestehenden Staalen
führen müssen.“
« Der wackere Führer der Freikonservativen, Graf Bethusy-Hue, trat dem bayrischen
Liberalen bei mit den treffenden Worten: „Wenn der Abgeorduete von Ketteler sagt,
unserer Zeit sei die Gottessurcht abhanden gekommen, so verweise ich ihn auf die
Frömmigkeit unserer Soldaten, auf das Verhalten unserer kranken und sterbenden
Krieger. Ich protestiere dagegen, daß eine Partei die Gottessurcht als ihre Domäne
betrachten will!“
Mit frommem Augenaufschlag, als sei er und seine Partei an dem hier auf-
klasfenden Zwiespalt der Meinungen völlig unschuldig, erhob sich unn Windthorst zum
Wort mit dem Stoßseufzer:
„Ich häite sehr gewünscht, daß wir zu einer Einigung gekommen wären; nur ats Aus-
druck unserer einmütigen Uberzeugung hat die Adresse Bedentung, sonst nicht. Wenn man uns
die Schuld an der Zwietracht zuschiebt, weil wir konsessionelle Zwecke versolglen, so erwidere
ich: Wir sind gar nicht lonfessionell; jedem, welcher Konfession er angehört, steht der Einlribt in
unsere Fraltion ofsen, sobald er ihre Staluten unterschreibt. Wollen Sie die Einmischung für
die Wiederanfrichtung des päpstlichen Sinhles nicht, dann sagen Sie lieber gleich: Uberall wol.
len wir nach dem Rechien sehen, nur in dieser Sache nicht; das ist des Pudels Kern: Sie wollen
erllären, die Lebensinteressen Ihrer katholischen Mitbürger unberücksichtigt zu lassen! Ja. es
ist ein Lebensinteresse, ein Rech!, auf das die katholischen Deutschen Auspruch haben, dast ihr
geistliches Oberhaupt selbständig und unabhängig sei. Zu dieser Selbständigkeit gehört eine