Full text: Unsere Sozialdemokratie im Spiegel der ersten französischen Revolution.

20 Unsere Sozialdemokratie 
wir sehen werden — ziemlich genau dieselben, welche 
unsere heutige deutsche Sozialdemokratie auf ihre roten 
Fahnen schreibt! 
Harmlos genug führen sich diese neuen Ideen ein, und 
zwar abermals zunächst nur bei den höchsten Ständen. Das 
Hof- und Salonleben ist in Wahrheit trotz seiner Feinheit und 
Anmut doch leer, erkünstelt und trocken. Herz und Gemüt 
hungern, dürsten und erstarren dabei. „Die Rückkehr zur 
Natur, Empfindsamkeit!“ ist die Losung, welche diesen fühl- 
baren Mängeln Abhilfe verspricht; und das ganze Frankreich 
der alten Herrlichkeit nimmt diese Losung begeistert auf. Hof, 
Adel, Geistlichkeit, Beamtentum schwelgen im Genusse der reinen 
Natur und überströmender Empfindung. Die Losung vertieft 
sich. Alle Wissenschaften machen sie zu der ihrigen: die Philo- 
sophie, die Rechtswissenschaft, die Naturwissenschaften, die Volks- 
wirtschaft, die Sittlichkeitslehre, alle greifen auf die ersten Er- 
kenntnisquellen der Natur und des Menschen zurück, leugnen 
und verwerfen alle überlieferung, allen Glauben, alle durch Ge- 
schichte, Recht, Gewohnheit, Religion, Sitte, Gesellschaft groß- 
gezogenen Vorurteile, Vorrechte und Anschauungen und setzen 
mathematisch-philosophische, materialistisch-naturwissenschaftliche, 
und sozial-naturrechtliche Formeln an Stelle der alten Glaubens- 
artikel. Und da diese neue geistige Bewegung von gewaltigen 
Geistern getragen ist: der maßvollen Wucht und Tiefe eines 
Montesquien, der leidenschaftlichen Beredsamkeit eines Diderot, 
dem fast Goethe'schen Gemeinwissen und der funkelnden, geist- 
sprühenden VBielseitigkeit eines Voltaire und des ganzen Gefolges 
der Encyklopädisten, so ist auch jedes Gemach der Königsschlösser 
Frankreichs und jeder Salon, jedes Schloß der guten alten Zeit 
angefüllt mit Bewunderern der neuen Lehre. Denn man hält 
ja auch sie, wie alles andere nur für ein Privilegium, Salon- 
licht und Spielzeug der bevorrechteten Stände. Man wähnt, 
daß sie nimmermehr in die dunkeln Tiefen des Volkes hinab- 
steigen und dort Unheil stiften könne, da von den 26 Millionen 
Franzosen jener Zeit nur 6 Millionen schreiben und lesen können.
	        
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