26 Unsere Sozialdemokratie
Mensch wird seiner Fesseln ledig, nicht bloß glücklich,
sondern auch tugendhaft werden!
Von diesem Grundsatz aus beginnt der Angriff.
Kein anderer dringt weiter vor oder wird mit schärferer Feind-
seligkeit geführt. Bis dahin bezeichnete man die herr—
schenden Zustände nur als hemmend und unvernünftig.
Jetzt beschuldigt man sie dagegen, sie seien ungerecht
und verderblich. Bis dahin waren nur Vernunft und Be-
gierden im Aufruhr; jetzt empört man auch Gewissen und Stolz.
Mit Voltaire und Montesquien war alles, was ich erhoffen
konnte, nur ein bischen verringerte übel. Mit Diderot und
Holbach erblickte ich nur fern am Horizont ein glänzendes El-
dorado oder eine behagliche Stätte der Liebesgöttin. Mit
Rousseau aber habe ich im Bereiche meiner Hand ein
Paradies, in welchem ich mit einem Schlage meinen
Seelenadel unzertrennlich finden werde von meinem
Glücke. Ich habe ein Recht darauf, die Natur und Vor-
sehung berufen mich dazu; es ist mein Erbteil. Einzig und
allein die willkürliche Verfassung des Bestehenden ver-
drängt mich davon und ist zugleich der Grund meiner
Laster wie meines Unglücks. Mit welchem Zorn und wel-
chem Feuer will ich mich auf die alte Sperrmauer werfen! —
Man erkennt diese heiße Leidenschaft Rousseaus an dem erregten
Ton, der bitteren Sprache, der düsteren Beredsamkeit seiner neuen
Lehre. Jetzt handelt sich's nicht mehr um Scherze und Schlüpfrig-
keiten; der Ernst wird dauerhaft, man entrüstet sich und die
mächtige Stimme, die sich erhebt, dringt über die Salons
hinaus in die leidende grobe Masse, an welche noch nie-
mand sich gewendet hat, deren dunkle Gefühle zum erstenmale
einem Dolmetscher begegnen und deren zerstörende Triebe sich
bald aufrütteln werden bei dem Rufe ihres Herolds. Rousseau
gehört zum Volke, nicht zur großen Welt. Im Salon fühlt
er sich beengt; er versteht nicht zu plaudern, liebenswürdig zu
sein; die schönen Worte kommen ihm erst nachträglich, wie sein
Treppenwitz; er schweigt mürrisch oder sagt nur Tölpeleien und