72 Zweiter Teil: Organisation des Bundes.
Dem Kaiser steht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichs-
gesetze und die Ueberwachung der Ausführung derselben zu (Reichs-Ver-
fassung Art. 17).
Sollte in einem Bundesstaate der Fall einer Justizverweigerung
eintreten, und auf gesetzlichem Wege ausreichende Hilfe nicht erlangt werden
können, so liegt dem Bundesrat ob, erwiesene, nach der Verfassung
und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bundesstaates zu be-
urteilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege
anzunehmen und darauf die gerichtliche Hilfe bei der Bundesregierung,
die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken (Reichs-Ver-
fassung Art. 77).
9. Kapitel.
Das Verfahren bei Streitigkeiten zwischen verschiedenen
Bundesstaaten.
Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern die-
selben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten
Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, werden auf Anrufen des einen
Teils von dem Bundesrate erledigt (Reichs-Verfassung Art. 76, Abs. 1). Ein
solcher Streit lag 1887 zwischen Preußen und Sachsen in Betreff der
Berlin—Dresdener Bahn vor.
Unter dem Worte „erledigt“ ist nur im Allgemeinen angedeutet
worden, daß der Bundesrat seinerseits bestrebt sein wird, falls es ihm
nicht gelingt, innerhalb seines Schoßes eine solche Angelegenheit zu
befriedigender Lösung zu bringen, diejenigen Rechtswege selbst zu be-
zeichnen, auf denen die Sache zum Austrag kommen kann. Vorzugs-
weise ist dabei auch der Fall einer Verweisung auf Austrägal-Instanz
vorausgesehen (Sten. Ber. des nordd. Reichstags 1867, S. 665, Spalte 2).
Verfassungsstreitigkeiten d. h. zwischen Negierung (Krone] und
Volksvertretung, also nicht etwa Thronfolge= oder Regentschaftsstreitig-
keiten, in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde
zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, hat auf Anrufen
eines Teiles der Bundesrat gütlich auszugleichen, oder, wenn das nicht
gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen
(Reichs-Verfassung Art. 76). Ein Streitfall dieser Art ist 1881 in Betreff
der Frage der Zuständigkeit des Reichsgerichts für Streitfragen zwischen
dem Senat und der Bürgerschaft Hamburgs im Reichsgesetzblatt 1881,
S. 37 erledigt worden.
Wie zu verfahren ist, wenn eine Streitigkeit zwischen dem Bundes-
staat und dem Reich entsteht, spricht die Reichs-Verfassung nicht aus.
Sofern der Streit nicht gütlich beigelegt werden kann, ist die Ent-
scheidung auf dem Wege der Reichsgesetzgebung herbeizuführen. Art. 76
der Reichs-Verfassung findet hierauf keine Anwendung. Ein solcher
Fall kann z. B. im Hinblick auf den bayerischen Vertrag III. § 7
leicht praktisch werden.