654 Sachsen von 1848—1854.
dem Factionsgeist, nicht lassen; die erste Kammer wurde da-
durch zu einem bloßen Abklatsch der zweiten, nur daß sie an
Stelle des auf letztem Landtage behaupteten Zuges zur Mäßi-
gung diesmal noch eine radicalere Tendenz bewies als jene.
Zwischen diesen Extremen stand die Partei der gemäßigten
Liberalen, ohnehin schwach an Zahl, entnüchtert und abgespannt,
nachdem der Freiheitsrausch verflogen, ohne rechten Rückhalt
im Volke und, soweit sie in der deutschen Frage dem gothaer
Programm zuneigte 1), der Regierung noch viel unliebsamer
als die Demokratie vom reinsten Wasser. Mangel an Lebe
zur Dynastie und dem eigenen Volksstamm war der Vorwurf,
den die specifische Regierungspartei ihnen täglich zuschleuderte;
gegen niemanden aber richtete sich ihr Haß mit größerer Bit-
terkeit als gegen v. Carlowitz, den Führer der kleinen Schar,
die, obgleich in inneren Fragen streng conservativ, in der deut-
schen für unbedingten Anschluß an Preußen war. Ja man
erlebte das eigenthümliche Schauspiel, daß sie selbst den Bund
mit den Radicalen nicht verschmähte, wo es die Bekämpfung
dieser Gegner galt 2).
Alle unabhängigen Parteien begegneten sich in der Sehn-
sucht, über die letzten traurigen Ereignisse den Schleier des
Vergessens gebreitet zu sehen. Ließ sich doch das Gefühl nicht
abweisen, daß die Verschuldung keineswegs bloß auf seiten
Derer liege, die jetzt hinter Schloß und Riegel ihrer Verur-
theilung entgegensahen. Die unterm 3. November erlassene
Amnestie hatte sich nur auf Beleidigungen des Staatsoberhaupts
und seiner Familie bezogen. Die Unzufriedenheit über die große
Zahl und lange Dauer von Suspensionen und Inhafthaltungen
machte sich daher in einem Antrage auf eine mäglichst aus-
gedehnte Amnestie für die Maigefangenen Luft. Diese ver-
weigerte jedoch der Ministerpräsident ganz bestimmt. „Begna-
1) Braun, Held, Cuno, Schwarze, Professor Wagner, Hülße, Bieder-
mann, Koch u. A.
2) v. Hohenthal-Püchan, Die conservative Partei in Sachsen
und ihre Stellung zur deutschen Frage (1850).