Der Pietismus. Chr. Thomasius. 299
war, die Ursache zu seiner gänzlichen Ungnade. Spener folgte
1691 dem Rufe als Probst nach Berlin und Carpzov nahm
seine Stelle ein. Noch 1695 sendete ihm die theologische Fa-
cultät zu Wittenberg eine Streitschrift nach, in der ihm 283
Irrlehren aufgezählt wurden. Später dreimal nach Sachsen
zurückgerufen, konnte er kein Herz mehr zu einem Lande fassen,
wo man seinen redlichen Willen so arg verkannt hatte, er blieb
bis zu seinem Tode 1705 in Berlin, wohin Schade ihm
folgte; Franke und Anton siedelten nach Halle über. Wie einst
der Philippismus, so war jetzt der Pietismus den Verfolgungen
der Orthodoxie in Sachsen erlegen.
Aber ihres Triumphes sollte sie jetzt so wenig froh wer-
den wie damals, deunn bereits hatte die herrschende Schulweisheit
von anderer Seite her einen zweiten Stoß erhalten, der ihr
bis ins Lebensmark drang, und diesen führte Christian Tho-
masius, der, 1655 zu Leipzig als Sohn des Professors Jacob
Thomasius geboren, im Jahre 1681 unter dem größten Beifall
mit Vorlesungen über Naturrecht nach Anleitung des Hugo
Grotius und des verfehmten Pufendorf auftrat. Nicht durch
eigene schöpferische Idren, nicht durch Bereicherung der Wissen-
schaft glänzt sein Name, wohl aber dadurch, daß er die engen
Schranken, welche die Scholastik, und zwar die protestantische
nicht minder als die mittelalterliche, um den menschlichen Geist
gezogen hatte, kühn durchbrach, der Pedanterie und dem Geistes-
zwang, auf welchem Gebiete er ihnen auch begegnen mochte,
einen schonungslosen Krieg ankündigte. Indem er, der nebenbeie
ein schlechter Lateiner war, sich 1687 zum erstenmale bei seinen
Vorlesungen der deutschen Sprache bediente und im folgenden
Jahre sogar das schwarze Brett durch eine deutschgeschriebene
Ankündigung seiner Vorlesung, „welcher gestalt man denen
Franzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen solle“,
zu entweihen wagte, eroberte er die deutsche Sprache für den
össentlichen gelehrten Unterricht und wurde der Ernenerer der
alademischen Lehrweise. Durch seine 1688 begonnene satirisch-
kritische Monatsschrift „Schertz= und Ernsthaffte, Vernünftige
und Einfältige Gedanken über allerhand Lustige und Nützliche