Das Anerbieten der polnischen Thronfolge. 590
ziehen; da zu einer Vermählung der sächsischen Prinzessin mit
einem Erzberzoge bei dem Widerwillen der Polen gegen Oster-
reich keine Aussicht war, so wünschte es, die Erbberechtigung
nicht auf diese, sondern auf die Brüder des Kurfürsten ausge-
dehnt zu sehen, von denen der älteste des Kaisers Schwieger-
sohn war. Der oben erwähnte Vertrag vom 25. Juli zwischen
dem Kaiser und dem Könige von Preußen erhielt einen Separat-
artikel, in welchem sich beide verpflichteten, nichts gegen die
Verfassung und Integrität Polens vorzunehmen noch auch einen
Prinzen aus ihren Häusern als Gemahl der sächsischen Prin-
zessin auf den polnischen Thron zu setzen; bei ihrer Zusammen-
kunft zu Pillnitz ermunterten beide Monarchen den Kurfürsten
zur Annahme der dargebotenen Krone 1). Rußland schwieg;
der sächsische Gesandte in Petersburg, Graf Völkersahm, ver-
mochte dem Vicekanzler Ostermann und dem Minister Besbo-
rodkow nichts als die vieldeutige Versicherung zu entlocken, die
Rechtschaffenheit des Kurfürsten sei hinreichend bekannt und sie
zweifelten nicht, daß die Kaiserin seinem Verfahren ihren vollen
Beifall zollen werde 2). Wenn aber auch nach dieser Seite
eine Bernhigung in der Gewißheit zu liegen schien, daß von
Katharina, wie ungern sie auch die neue Verfassung sehen
mochte, ein direct feindseliges Auftreten gegen dieselbe nicht
zu fürchten sei, so lange sie mit der Türkei beschäftigt war,
so wußte doch gerade sie sehr wohl, „daß der widerspruchs-
volle Halbwille des wiener und des berliner Hofes sie schließ-
lich doch nicht hindern würde in Polen ihren Willen durchzu-
setzen“ 3). Alle drei Höfe beobachteten sich gegenseitig mit
mißtrauischen Augen und jeder beargwöhnte Sachsen des ge-
heimen Einverständnisses mit den beiden anderen. Dieser Ver-
dacht entbehrte freilich allen Grundes; denn so ängstlich vermied
der Kurfürst jeden Schein einer Bewerbung, daß seine Minister
in die wichtigsten Polen betreffenden Vorgänge uneingeweiht
1) v. Sybel, Geschichte der Revolutionszeit (3. Aufl. 1865) I, 422.
2) Völkersahm an Graf Loß, 15. September.
3) Ssolowjoff a. a. O., S. 261.