8 5 Charakter der Verfassungen; Staatsgewalt. 15
fassung bezeichnet den Staat als „Freistaat“ (Art. 1). Beide Bezeichnungen be-
sagen dasselbe: Die Hansestädte sind Republiken, an ihrer Spitze steht nicht eine
Einzelperson, sondern eine Mehrheit von Personen, deren verfassungsmäßig gebildeter
Wille der höchste im Staat ist. Dagegen besagt die Staatsform der Republik noch
nichts über die bürgerliche Freiheit, sich nach Belieben zu betätigen, oder die poli-
tische der Anteilnahme des Volkes an der Staatsgewalt.
In die herkömmliche Einteilung der Republiken in Demokratien und
Aristokratien lassen sich die Hansestädte nicht ohne weiteres einreihen. Be-
deutet wenigstens Aristokratie eine Klassenherrschaft, so besteht eine solche in ihnen
nicht; und versteht man auf der andern Seite unter Demokratie ein Staatswesen,
in dem der Wille der Volksgesamtheit den Ausschlag gibt, so entsprechen ihre Ver-
fassungen auch diesem Typus nicht. Sie zeigen vielmehr einen gemischten Charakter,
wie sie denn auch nicht nach einem Idealtypus konstruiert, sondern nach den Bedürf-
nissen des Staates im Rahmen der größeren deutschen Staatengemeinschaft geschicht-
lich erwachsen sind 1). Die Grundlagen sind demokratisch — die Basis für die Bildung
der höchsten Organe bildet unmittelbar oder mittelbar die Gesamtheit der Bürger —,
aber in der Art der Abgrenzung des Bürgerrechts, der Abstufung des Wahlrechtes.
zur Bürgerschaft, der Ausgestaltung der Wahl in den Senat, der lebenslänglichen
Stellung der Senatoren sind der Verfassung aristokratische Elemente eingefügt,
die sich dem Durchdringen des Volkswillens hemmend in den Weg stellen können.
II. Die Staatsgewalt,„steht“ nach der Verfassung von Lübeck (Art. 4)
— so auch die Verfassung von Hamburg (Art. 6) — „dem Senat und der
Bürgerschaft gemeinschaftlich zu“. Nach der Brem. Verf. (§ 3 Abs. 2)
bestehen „zur Ausübung der Staatsgewalt“ der Senat und die
Bürgerschaft 2). Diesem Unterschied in der Ausdrucksweise, nach der in Hamburg
und Lübeck Senat und Bürgerschaft Inhaber der Staatsgewalt sind, während sie
diese in Bremen nur ausüben, kommt eine praktische Bedeutung nicht zu 3). Sieht
man das Volk oder die Gesamtheit der politisch berechtigten Bürger als den Träger
1) Schon über die alten Verfassungen sagt Villers in seinen Constitutions (S. 87): „Les.
constitutions sont toutestrois mixtes d’un mélange de démocratie et Taristocratie, qui se tem-
pèrent mutuellement.“ Seelig, Hamb. Staatsrecht, S. 73 bezeichnet Hamburg als „aristo-
kratische Republik“; Wulff, Hamb. Ges. Bd. 1 S. 4 als „Mittelstufe zwischen der aristokratischen.
und der demokratischen Republik“. Ueber die Ansicht Rehms, daß Bremen zu den demo-
kratischen, Hamburg und Lübeck zu den aristokratischen Republiken zu rechnen seien, unten Anm. 3.
2) Diese Ausdrucksweise der Brem. Verf. erklärt sich aus ihrer Entwicklung. Die Brem.
Verf. v. 1849 enthielt in § 3 das allgemeine Prinzip: „Alle Staatsgewalt geht von der Gesamt-
heit der Staatsbürger aus“ und schloß daran den §& 4: „Mit der Auslibung der Staatsgewalt sind
befaßt: der Senat, die Bürgerschaft, die richterlichen Behörden.“ Die Verf. v. 1854 strich den.
z3, behielt aber die Ausdrucksweise des & 4 bei.
3) Rehm, Allgem. Staatslehre, S. 188 will allerdings einen Unterschied darauf gründen und.
weist Bremen darnach den demokratischen, Hamburg und Lübeck den aristokratischen Republiken.
zu. In seinem Ausfsatz: Das rechtliche Wesen der deutschen Monarchie, im Archiv f. öffentl. Recht,
Bd. 25, S. 393 f., beruft er sich für die Unterscheidung ferner darauf, daß die Brem. Verf. von
„Staatsgenossen“, die Lüb. und Hamb. Verf. von Staatsangehörigen spreche. Der Ausdruck
„Staatsgenosse“ ist indessen nur in der Ueberschrift des 2. Abschnittes der Brem. Verf. aus der
alten Verf. v. 1849 stehen geblieben; im übrigen spricht auch sie von Staatsangehörigen (7* 12,
17, 18). Ein Wesensunterschied kann aus diesen Wortfassungen nicht hergeleitet werden. Gegen
Rehm auch Jellinek, Staatslehre 2, S. 732 Anm. 2: „Gemeint ist in allen 3 Hansestädten
r—t und E. Lüders, Der Träger der Staatsgewalt in den Hansestädten, Annalen 1912,
nm. 24