86 Charakter der Verfassungen; Staatsgewalt. 17
stellung der beiden jahrhundertelang um den Vorrang streitenden Körperschaften.
Als einen Abschluß ihrer Kämpfe stellte für Hamburg schon der Hauptrezeß von 1712
den Fundamentalsatz auf, „daß solch rc eu oder das höchste Recht und Gewalt
bey E. E. Rath und der Erbgesessenen Bürgerschaft inseparibili nexu conjunctim
und zusammen, nicht aber bey einem oder andern Theil privative bestehe" 1). In
Bremen und Lübeck ist diese Gleichstellung in den Verfassungsverhandlungen im
19. Jahrhundert zur Anerkennung gelangt 2).
Eine unmittelbar praktische —rechtliche — Bedeutung
hat in dieser Beziehung jener Grundsatz nicht. Eine Konse-
quenz kann darin gesehen werden, daß die Bürgerschaft in ihrer Tätigkeit völlig selb-
ständig und unabhängig neben dem Senat steht; der Senat kann sie nicht vertagen,
nicht schließen oder auflösen; sie hat das Selbstversammlungsrecht 3). Weitere Konse-
quenzen lassen sich finden in der Art der Regelung des Ausgleichs von Meinungs-
verschiedenheiten zwischen Senat und Bürgerschaft, in ihrem Zusammenwirken bei
der Senatswahl sowie in Einzelheiten, wie in Bremen in der Bestimmung, daß auch
in den verwaltenden Deputationen, durch die Senat und Bürgerschaft ihre Ver-
waltungsaufgaben besorgen, eine Ueberstimmung der Mitglieder aus der einen Kör-
perschaft durch die der anderen nicht zulässig ist (unten §5 25 Z. 3).
Für Bremen und ebenso für Hamburg aber enthält jener Grundsatz
nicht nur die Anerkennung der Gleichstellung, sondern auch die der grund-
sätzlichen Gleichberechtigung der beiden höchsten Organe.
Dies wird anerkannt in der weiteren Bestimmung der Brem. Verf. (§ 56): „Der
Senat und die Bürgerschaft wirken in Ausübung der Staatsgewalt gemeinschaftlich,
soweit nicht verfassungsmäßig ein Anderes festgesetzt ist.“ Die Vermutung spricht
hier also — anders als in den deutschen Monarchien — nicht für die Alleinberech-
tigung der Regierung, des Senats, sondern für die gemeinsame Zuständigkeit von
Senat und Bürgerschaft. Demgemäß zählt auch die Brem. Verf. (5 57) die vom
Senat allein zu erledigenden Aufgaben vollständig auf, während die Aufzählung der
Gegenstände der gemeinschaftlichen Wirksamkeit des Senats und der Bürgerschaft
in §& 58 erkennen läßt („Gegenstände der gemeinschaftlichen Wirksamkeit des Senats
und der Bürgerschaft sind namentlich“), daß sie nur die Hauptsachen anführen,
1) Näheres Seelig, Hamb. Bürgerschaft, S. 91 f. Gegen seine Auffassung, daß das Ky-
rion nur bie ge baebuns und Disziplinargewalt über Senatsmitglieder umfasse, auch Bran-
is a. a 5
2) In Bremen sagte schon der Verf.-Entwurf v. 1814, 5+ 18: „Es gibt zwei Gewalten im Staate,
der Senat und die auf den Konventen versammelte Bür zerschaft. Diese beiden stellen miteinander
den Staat dar, und bei ihnen ist daher die Hoheit gemeinschaftlich.“ Aehnlich dann der Entwur
v. 1837, § 3 Abs. 3. — In Lübeck wurde der Art. 4 erst bei der Verfassungsrevision in 1875 na
dem Muster des Art. 6 der Hamb. Verf. ausgenommen; die früheren Verfassungen enthielten.
einen entsprechenden Grundsatz nicht (vgl. Bericht der gem. Kommission in Verh. 1874 D. n. 3).
Die änschauung, daß die Bürgerschaft „Mit-Inhaberin der höchsten Staatsgewalt“ sei, findet sich
aber z. B. auch schon in dem Bericht der bürgerl. Verf.-Revisionskommission, 1844, . 161.
3) Unten §# 19. v. Melle a. a. O, S. 46 f. protestiert dagegen, daß in dem Selbstversamm-
lungsrecht der Bürgerschaft eine Konsequenz ihrer Mitinhaberschaft der Staatsgewalt gesehen
werde. Es mag sein, daß es unrichtig wäre, eine notwendige Konsequenz darin zu erblicken. Trotz-
dem ist das Selbstversammlungsrecht bezeichnend für die Stellung der Bürgerschaft und ergibt
mit andern Momenten zusammen, daß die Verfassung die Bürgerschaft im Sinne jenes Grund-
satzes tatsächlich dem Senat gleichstellt.
Bollmann, Bremen und Lübeck. 2