Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XXVII. Das Staatsrecht der Freien Hansestädte Bremen und Lübeck. (27)

18 Allgemeiner Charalter beider Staaten und ihrer Verfassungen. *5 
aber den gemeinsamen Wirkungskreis in seiner grundsätzlichen Unbeschränktheit nicht 
erschöpfen will 1). 
In Lübeck gilt in dieser Beziehung das Gegenteil. Der Grundsatz, daß die 
Staatsgewalt Senat und Bürgerschaft gemeinschaftlich zustehe, wird sogleich einge- 
schränkt durch den Zusatz (Art. 4 Abs. 2): „Für die Ausübung derselben sind die Be- 
stimmungen dieser Berfassung maßgebend“, und weiter durch den Art. 18: „Dem 
Senate allein ist die Leitung sämtlicher Staatsangelegenheiten anvertraut, soweit 
nicht die nachfolgenden Bestimmungen eine Mitwirkung der Bürgerschaft in ihrer 
Gesamtheit oder des Bürgerausschusses ausdrücklich vorschreiben.“" Demgemäß gibt 
die Lüb. Verf. auch eine erschöpfende Aufzählung der Rechte der Bürgerschaft, wäh- 
rend sie im Gegensatz zu den Verfassungen von Hamburg und Bremen die vom Senat 
allein zu erledigenden Gegenstände überhaupt nicht anführt. Während also in Bre- 
men und Hamburg die Vermutung für die gemeinsame Wirksamkeit von Senat und 
Bürgerschaft spricht, spricht sie im Lübeck für die alleinige Kompe- 
tenz des Senats. Damit ist dem Verfassungsgrundsatz, daß Senat und Bürger- 
schaft gemeinsam Träger der Staatsgewalt sind, in Lübeck allerdings seine prak- 
tische Bedeutung genommen2). 
Diese grundsätzliche Verschiedenheit der Verfassungen hängt zusammen mit der 
oben Seite 11 f. hervorgehobenen Verschiedenartigkeit ihrer Entwicklung. Unter der 
alten Stadtverfassung hatte der Rat die Fülle der Macht; die Bürgerschaft war be- 
schränkt auf die von ihr dem Rat abgerungenen einzelnen Berechtigungen. In Lübeck 
hat die Verfassung an dieser grundsätzlichen Kompetenzabgrenzung nichts geändert. 
Der Art. 18 der heutigen Lüb. Verf. wiederholt nur die entsprechende Bestimmung 
des Rezesses von 1669: „Vor obbemeldeten Rath .. gehören alle und jede Ma- 
terien .. . außer denen, worinnen der Bürgerschaft spezifirter maßen zu concurriren, 
durch diesen und vorigen Rezeß verstattet ist.“ In Bremen dagegen beseitigte die 
Verfassung von 1849 die alte Ordnung völlig und auf immer; sie legte das Schwer- 
gewicht auf die Seite der Bürgerschaft. Nach der Reaktion suchte dann die heutige 
Verfassung von 1854 einen Ausgleich zwischen dem alten Zustande und der Neu- 
ordnung von 1849 zu schaffen, indem sie die beiden Organe grundsätzlich gleichbe- 
rechtigte 3). 
Die praktischen Konsequenzen dieser grundsätzlichen Verschiedenheit sind übrigens 
nicht so groß, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Auch die bremische Ver- 
1) In Hamburg ist die gleiche Vermutung für die gemeinsame Zuständigkeit vom Senat und 
Bürgerschaft in der Verfassung zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber nach der herrschenden 
Ansicht aus dem Art. 6 zu entnehmen. So Urteil des Hanseat. OLG. in HG#Z. 1896, S. 110: 
„Spricht daher in den monarchisch regierten deutschen Staaten die Vermutung für die Berech- 
tigung des Trägers der Krone, so bedarf doch in Hamburg im Zweifel jede staatliche Willens- 
äußerung der mitwirkenden Tätigkeit der Bürgerschaft.“ Ebenso Wulffa. a. O., S. 5, Anm. 2; 
Hanfft a. a. O., S. 52; Lüdersg. a. O., S. 9f. Anderer Ansicht von ihrem oben geschil- 
derten abweichenden Standpunkte aus v. Melle, S. 49; Seelig a. a. O., S. 60 f.; 
Brandis a. a. O., S. 35. 
2) So erklärt auch schon die Kommission des Bürgerausschusses in Verh. 1874 D. nu. VI zu 
dem Entwurf: „Art. 4 ist nur von doktrinärem Interesse.“ 
3) Oben S. 10. Auch in Hamburg wollte die demokratische Konstituanteverfassung v. 1849 
das gemeinsame Kyrion zugunsten der Herrschaft der Bürgerschaft beseitigen; die Neunerver- 
fassung, seeie es grundföhlih, die Verfassung v. 1860 ausdrücklich in Art. 6 wieder her. Brandis 
a. a. O., S. 21 f.
	        
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