Full text: Psychologie der Massen.

90 Zweites Buch. 
kommenen Ideen entfernen. Die Nachahmung derselben wäre 
dann zu schwer, und ihr Einfluß wäre null. Eben aus diesem 
Grunde haben die ihrer Zeit zu sehr überlegenen Menschen 
keinerlei Einfluß auf sie; der Abstand ist zu groß. Aus dem- 
selben Grunde haben die Europäer trotz aller Vorteile ihrer 
Kultur einen so unbedeutenden Einfluß auf die Völker des 
Orients, von denen sie zu sehr abweichen.‘ 
„Die vereinigte Wirksamkeit der Vergangenheit und der 
gegenseitigen Nachahmung macht alle Menschen desselben 
Landes und desselben Zeitalters schließlich so sehr ähnlich, 
daß selbst bei jenen, die dem am meisten sich doch entziehen 
sollten, bei Philosophen, Gelehrten, Literaten, Gedanke und Stil 
eine Familienähnlichkeit besitzen, durch die man sofort die Zeit. 
der sie angehören, erkennt. Man braucht nicht lange mit jeman- 
dem zu reden, um seine Lektüre, seine regelmäßige Beschäfti- 
gung und das Milieu, in dem er lebt, genau zu erkennen!).““ 
So mächtig ist die Übertragung, daß sie den Individuen 
nicht bloß bestimmte Anschauungen, sondern auch bestimmte 
Gefühlsweisen aufzwingt. Die Übertragung ist der Grund, 
warum ein Zeitalter gewisse Werke, z. B. die Oper Tann- 
häuser, mißachtete, die einige Jahre später von eben ihren 
Verächtern bewundert werden. 
Namentlich vermittels des Mechanismus der Übertragung, 
niemals aber mittels der Vernunft verbreiten sich die An- 
schauungen und Überzeugungen der Massen. Im Wirtshause 
befestigen sich durch Behauptung, Wiederholung und Über- 
tragung die heutigen Begriffe der Arbeiter, und der Glaube 
der Massen aller Zeiten ist nicht anders gezeitigt worden. 
Treffend vergleicht Renan die Begründer des Christentums mit 
den „sozialistischen Arbeitern, welche ihre Ideen im Wirtshause 
verbreiten“. Und schon Voltaire hat betreffs der christlichen 
Religion bemerkt, „mehr als 100 Jahre lang habe ihr nur der 
niedrigste Pöbel angehangen‘“. 
  
1) Der Mensch und die Gesellschaften, 1881, II, 116.
	        
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