Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 101
4. Kapitel.
Grenzen der Veränderlichkeit der Anschauungen und Überzeugungen der
Massen.
$ 1. Die festen Überzeugungen.
Es besteht ein genauer Parallelismus zwischen den morpho-
logischen Merkmalen der Wesen und ihren psychologischen
Merkmalen. In den morphologischen Merkmalen finden sich
gewisse unveränderliche Elemente, die so wenig veränderlich
sind, daß zu ihrem Wandel geologische Perioden nötig sind,
und neben diesen festen, ursprünglichen finden sich sehr wandel-
bare Merkmale, die durch das Milieu, die Kunst des Züchters
und des Gärtners leicht abgeändert werden, oft so sehr, daß sie
dem oberflächlichen Beobachter die Grundmerkmale verbergen.
Der gleichen Erscheinung begegnen wir bei den geistigen
Merkmalen. Neben den ursprünglichen psychischen Elementen
einer Rasse finden sich wandelbare und wechselnde Elemente.
Das ist der Grund, warum wir bei der Untersuchung der Über-
zeugungen und Anschauungen eines Volkes stets einen sehr
festen Grund finden, auf den Anschauungen gepfropft sind, die
ebenso flüchtig wie der den Felsen bedeckende Sand sind.
Die Überzeugungen und Anschauungen der Massen bilden
demnach zwei wohlgeschiedene Klassen. Zu der einen gehören
die ständigen Grundideen, welche mehrere Jahrhunderte währen
und auf denen eine ganze Kultur beruht; so z. B. in der Vor-
zeit der feudale Gedanke, die christlichen Ideen, der Refor-
mationsgedanke, in der Gegenwart das Nationalitätsprinzip, die
demokratischen und sozialen Ideen. Zur anderen gehören die
wechselnden Ansichten des Augenblicks, die meist aus all-
gemeinen Gedanken sich herleiten und die mit jedem Zeitalter
erstehen und vergehen; so z. B. die Theorien, welche in be-
stimmten Zeiten Kunst und Literatur beherrschen, wie jene,
denen die Romantik, der Naturalismus, der Mystizismus usw.
entsprungen sind. Sie sind meist so oberflächlich wie die Mode