106 Zweites Buch.
scheinbar entgegengesetzten Parteien: Monarchisten, Radikale,
Imperialisten, Sozialisten usw., ein absolut identisches Ideal
haben und daß dieses Ideal sich nur auf die geistige Struktur
unserer Rasse bezieht, da sich unter den analogen Namen bei
anderen Rassen ein gänzlich entgegengesetztes Ideal findet.
Weder der Name der Anschauungen noch die täuschenden
Anpassungen sind es, was den Kern der Dinge verändert. Die
Bürger der Revolutionszeit, die von der römischen Literatur
ganz erfüllt waren und die, durch die römische Republik ange-
zogen, deren Gesetze, Rutenbündel und Togen adoptierten und
versuchten, deren Institutionen und Muster nachzuahmen, wur-
den dadurch noch keine Römer, daß sie unter der Herrschaft
einer mächtigen Geschichtsillusion standen. Es ist die Aufgabe
der Philosophen, das, was sich in den scheinbaren Verände-
rungen von den alten Überzeugungen erhält, zu erkunden und
das zu sondieren, was in der Flut der Anschauungen durch die
Gesamtüberzeugungen und die Massenseele beeinflußt ist.
Ohne dieses philosophische Kriterium könnte man meinen,
die Massen änderten politische und religiöse Überzeugungen
häufig und willkürlich. Die ganze politische, religiöse, Kunst-
und Literaturgeschichte scheint dies in der Tat zu bezeugen.
Nehmen wir z. B. eine recht kurze Periode unserer eigenen
Geschichte, etwa die von 1790--1820, also 30 Jahre, die Dauer
einer Generation. Wir sehen hier, wie die zuerst monarchisti-
schen Massen revolutionär, dann imperialistisch und schließlich
wieder monarchistisch werden. In bezug auf die Religion gehen
sie in derselben Zeit vom Katholizismus zum Atheismus, dann
zum Deismus über und kehren zu den extremsten Formen des
Katholizismus zurück. Und das tun nicht bloß die Massen,
sondern auch deren Führer. Mit Verwunderung sehen wir jene
Konventmitglieder, die geschworenen Feinde der Könige, die
von Gott und Teufel nichts wissen wollen, ergebene Diener
Napoleons werden und dann unter Ludwig XVIN. in den Pro-
zessionen fromm die Kerzen tragen.
Welcher Wechsel sodann in den Massenanschauungen