Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 107
während der folgenden 70 Jahre! Das ‚„perfide Albion‘‘ vom
Beginn des Jahrhunderts wird unter den Erben Napoleons der
Alliierte Frankreichs; das zweimal von uns besetzte Rußland,
das sich über unsere letzten Niederlagen so sehr gefreut, wird
mit einem Male als Freund betrachtet.
In der Literatur, der Kunst, der Philosophie ist der Wechsel
der Anschauungen noch jäher. Die Romantik, der Naturalis-
mus, der Mystizismus usw. kommen und gehen nach der Reihe.
Die gestern gefeierten Künstler und Schriftsteller werden morgen
aufs tiefste verachtet.
Was lehrt uns aber die Analyse dieser scheinbar so tiefen
Wandlungen? Daß alle jene, die im Gegensatze zu den Gesamt-
überzeugungen und Gefühlen der Rasse stehen, nur ephemer
sind und daß der abgelenkte Strom bald seinen Lauf wieder
gewinnt. Jene Anschauungen, welche sich an keine Grund-
überzeugung, an kein Gefühl der Rasse knüpfen und die dem-
nach keine Festigkeit haben können, sind allen Zufällen oder,
wenn man will, den geringsten Veränderungen des Milieu preis-
gegeben. Durch Suggestion und Ansteckung entstanden, sind
'sie stets momentaner Art; sie kommen und gehen oft so schnell,
wie die Sanddünen, die der Wind am Meeresstrande bildet.
Die Summe der flüchtigen Anschauungen der Massen ist
heutzutage größer, als sie es je war, und zwar aus drei ver-
schiedenen Gründen:
Erstens büßen die alten Überzeugungen immer mehr ihre
Herrschaft ein und wirken nicht mehr wie früher auf die wech-
selnden Anschauungen im Sinne einer bestimmten Orientierung.
Das Erlöschen der Gesamtüberzeugungen läßt Raum frei für
eine Menge von Sonderanschauungen ohne Vergangenheit und
Zukunit.
Zweitens wird die Macht der Massen immer größer und
ermangelt immer mehr des Gegengewichts, so daß die be-
sondere Wandelbarkeit der Ideen, die wir bei ihr vorfanden,
sich frei äußern kann.
Drittens und endlich bringt die neuerdings so ausgebreitete