Full text: Psychologie der Massen.

108 Zweites Buch. 
Presse den Massen unaufhörlich die entgegengesetztesten An- 
schauungen vor Augen. Die von diesen ausgehende Suggestion 
wird bald von entgegengesetzten Suggestionen aufgehoben. 
Auf diese Weise kann sich eine Anschauung nicht ausbreiten 
und hat nur ein kurzes Dasein; sie ist tot, bevor sie sich hin- 
länglich verbreiten konnte, um allgemein zu werden. 
Aus diesen mannigfachen Ursachen ist ein in der Welt- 
geschichte ganz neues Phänomen erwachsen, welches für unser 
Zeitalter durchaus charakteristisch ist: ich meine die Unfähig- 
keit der Regierungen zur Leitung der öffentlichen Meinung. 
Einst, es ist nicht lange her, bildeten die Aktion der Re- 
gierung, der Einfluß einiger Schriftsteller und eine ganz geringe 
Zahl von Zeitungen die wahren Regulatoren der öffentlichen 
Meinung. Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluß ein- 
gebüßt, und die Zeitungen geben nur die öffentliche Meinung 
wieder. Und die Staatsmänner, weit entfernt, sie zu lenken, 
suchen ihr nur zu folgen, sie fürchten sich vor ihr oft schreck- 
lich, was ihrem Handeln alle Festigkeit nimmt. 
Die Meinung der Massen hat demnach die Tendenz, immer 
mehr zum obersten Regulator der Politik zu werden. Sie ist 
heute schon so weit, Allianzen zu erzwingen, wie wir dies vor 
kurzem bei der russischen Allianz sahen, die ausschließlich einer 
Volksbewegung entsprungen ist. Es ist ein sehr interessantes 
Symptom für unsere Zeit, wenn man sieht, wie Päpste, Könige 
und Kaiser sich der Gepflogenheit des Interview unterwerfen, 
um dem Urteile der Massen ihre Gedanken über einen bestimm- 
ten Gegenstand zu unterbreiten. Einst konnte man sagen, die 
Politik sei keine Sache des Gefühls. Darf man dies auch heute 
noch sagen, da sie immer mehr durch die Impulse der wandel- 
baren Massen geleitet wird, die keine Vernunft kennen und nur 
vom Gefühl beherrscht werden? 
Die Presse wiederum, die einstige Leiterin der öffentlichen 
Meinung, hat wie die Regierungen vor der Macht der Massen 
zurücktreten müssen. Gewiß besitzt sie noch eine beträchtliche 
Macht, aber doch nur, weil sie ausschließlich der Reflex der
	        
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