110 Zweites Buch.
allem, was ihre Interessen nicht direkt berührt, bewirkt.
Lehren wie der Sozialismus haben wirklich überzeugte Anhänger
nur in den völlig ungebildeten Schichten, z. B. bei Berg- und
Fabrikarbeitern. Der Kleinbürger, der Handwerker, der nur
ein wenig gebildet ist, ist völlig skeptisch oder wandelbar
geworden.
Die seit dreißig Jahren erfolgte Entwicklung ist ofiensicht-
lich. In der vorangehenden, aber nicht weit zurückliegenden
Zeit besaßen die Meinungen noch eine allgemeine Orientie-
rung, sie leiteten sich von der Annahme gewisser Grundüber-
zeugungen her. Schon dadurch, daß man Monarchist war,
hatte man in Geschichte und Wissenschaft notwendig be-
stimmte, scharf umgrenzte Ideen, und wenn man Republikaner
war, so hatte man ganz entgegengesetzte Ideen. Ein Monarchist
wußte genau, daß der Mensch nicht vom Affen abstammt, und
ein Republikaner ebenso genau, daß er von ihm abstammt.
Der Monarchist mußte von der Revolution mit Abscheu, der
Republikaner verehrungsvoll sprechen. Es gab Namen, wie
Robespierre und Marat, die man mit andächtiger Miene, andere
wieder, wie Cäsar, Augustus, Napoleon, die man nur unter
Schmähungen aussprechen durfte. Bis auf unsere Sorbonne
war diese naive Art der Geschichtsauffassung verbreitet!).
Heute verlieren gegenüber der Diskussion und Analyse alle
1) In dieser Beziehung sind gewisse Seiten aus den Büchern unserer
Professoren recht interessant; sie zeigen, wie wenig der kritische Geist
durch unsere Universitätsbildung entwickelt wird. Ich zitiere beispiels-
halber folgende Zeilen aus der „Französischen Revolution‘ eines cehe-
maligen Geschichtsprofessors an der Sorbonne, der Unterrichtsminister
gewesen ist:
„Die Einnahme der Bastille war ein Hauptereignis in der Geschichte
nicht bloß Frankreichs, sondern Europas überhaupt, sie leitete eine neue
Epoche der Weltgeschichte ein.“ \
Betreffs Robespierres erfahren wir staunend, „seine Diktatur er-
streckte sich besonders auf die Anschauung, Überzeugung, sittliche
Autorität, sie war eine Art Pontifikat in der Hand eines tugendhaften
Mannes“ (S. 91, 220)!