Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 111
Anschauungen ihr Prestige, ihre Angeln nützen sich bald ab, und
nur wenige bleiben, die uns erregen könnten. Der moderne
Mensch fällt immer mehr der Gleichgültigkeit anheim.
Wir wollen diese allgemeine Erschöpfung der Anschau-
ungen nicht allzusehr bedauern. Daß sie ein Entartungssymptom
im Völkerleben ist, ist unbestreitbar. Gewiß haben die Seher,
Apostel, Führer, kurz die Überzeugten, eine ganz andere Ge-
walt als die Verneiner, Kritiker und Indifferenten. Aber wir
dürfen nicht vergessen, daß, wenn durch die gegenwärtige
Macht der Massen eine einzelne Anschauung genug Prestige
erlangte, um zur Geltung zu gelangen, sie bald eine solche
tyrannische Gewalt besäße, daß sie alles sogleich beugen würde
und die Zeit der freien Diskussion für lange vorüber wäre.
Oft sind die Massen friedfertige Herren, wie Heliogabal und
Tiberius zeitweilig waren, aber sie haben auch wilde Launen.
Ist eine Kultur reif, ihnen in die Hände zu fallen, dann ist sie
zu vielen Zufällen ausgesetzt, um noch large zu währen. Wenn
irgend etwas die Stunde des Niederganges aufzuhalten vermag,
dann ist es nur die extreme Wandelbarkeit der Anschauungen
und die wachsende Gleichgültigkeit der Massen gegenüber allen
Gesamtüberzeugungen.