Full text: Psychologie der Massen.

122 Drittes Buch. 
den sogenannten Leidenschaftsverbrechen. Selten zeigen sie 
Strenge bei Kindesmord unehelicher Mütter und noch weniger 
gegenüber dem verlassenen Mädchen, welches seinen Verführer 
ein wenig mit Vitriol überschüttet, indem sie instinktiv recht 
wohl fühlen, diese Verbrechen seien für die Gesellschaft wenig 
gefährlich, und es sei in einem Lande, das verlassene Mädchen 
nicht schützt, das Verbrechen der sich Rächenden mehr Nutzen 
als Schaden bringend, indem es künftige Verführer von vorn- 
herein abschreckt!). 
Die Jurys werden wie alle Massen durch das Prestige 
stark geblendet, und ganz richtig bemerkt der Präsident des 
Glajeux, sie seien sehr demokratisch ihrer Zusammensetzung 
nach, aber sehr aristokratisch in ihren Neigungen. „Name, Ge- 
burt, Reichtum, Ansehen und die Anwesenheit eines berühmten 
Anwalts, alles Distinguierende und Glänzende bilden für den 
Angeklagten eine sehr erhebliche Stütze.‘ 
Es muß die Sorge eines jeden guten Anwalts sein, auf 
die Gefühle der Geschworenen einzuwirken und, wie bei allen 
Massen, nur wenig zu räsonnieren oder nur rudimentäre ÄArgu- 
mentationsweisen anzuwenden. Ein durch seine Erfolge beim 
  
1) Es sei nebenbei bemerkt, daß diese von den Geschworenen mit 
gutem Instinkte gemachte Unterscheidung zwischen den geselischafts- 
feindlichen und nicht gesellschaftsfeindlichen Verbrechen der Richtig- 
keit keineswegs entbehrt. Das Ziel der Strafgesetze soll doch offenbar 
der Schutz der Gesellschaft gegen gefährliche Verbrecher, nicht aber 
Rache sein. Nun sind jedoch unsere Strafgesetzbücher und besonders 
unsere Richter von dem Rachegeist des alten Unrechts völlig erfüllt, 
und der Ausdruck „Ahndung‘“ (vindicta) wird noch täglich gebraucht. 
Diese Tendenz der Richter wird durch die Weigerung vieler von ihnen 
bezeugt, das treffliche Gesetz Berenger, welches dem Verurteilten 
die Strafe bis zu einer Rückfälligkeit erläßt, anzuwenden. Und doch 
muß jeder Richter wissen — die Statistik beweist es ja —, daß die erste 
Bestrafung fast unfehlbar die Rückfälligkeit bedingt. Sprechen die 
Richter einen Schuldigen frei, so glauben sie stets, die Gesellschaft sei 
ungerächt geblieben. Bevor sie dies zulassen, wollen sie lieber einen 
gefährlichen Rückfälligen schaffen.
	        
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