Full text: Psychologie der Massen.

26 Erstes Buch. 
stimmtester Weise von einem Dutzend Zeugen agnosziert. Die 
Angaben waren alle so übereinstimmend, daß dem Uhnter- 
suchungsrichter nicht der leiseste Zweifel blieb; er ließ den 
Totenschein ausfertigen. In dem Augenblicke aber, wo man 
zur Beerdigung sich anschickte, entdeckte man durch Zufall, 
daß die vermeintlichen Opfer noch völlig am Leben waren 
und kaum eine entfernte Ähnlichkeit mit den ertrunkenen 
Kleinen besaßen. Wie in mehreren von den früher angeführten 
Beispielen hatte die Behauptung des ersten Zeugen, der das 
Opfer einer Illusion war, zur Suggestionierung der anderen 
genügt. 
In solchen Fällen ist der Ausgangspunkt der Suggestion 
stets die bei einem Individuum durch mehr oder weniger 
vage Reminiszenzen erzeugte Illusion, sodann die Ansteckung 
durch Mitteilung dieser primären Illusion. Ist der erste Beob- 
achter sehr erregbar, so genügt es oft, daß der Leichnam, den 
er zu erkennen glaubt, abgesehen von aller wirklichen Ähn- 
lichkeit, irgend welche Besonderheit, etwa eine Narbe oder ein 
Bekleidungsmerkmal darbietet, wodurch die Vorstellung einer 
andern Person ausgelöst werden kann. Diese Vorstellung kann 
dann zum Kern einer Art Kristallisation werden, welche die 
Sphäre des Intellekts ergreift und allen kritischen Geist lähmt. 
Der Beobachter sieht dann nicht mehr die Sache selbst, sondern 
das in seiner Seele aufgetauchte Bild. Auf diese Weise erklären 
sich die irrtümlichen Agnoszierungen von Kinderleichen durch 
deren eigene Mütter, wie in dem folgenden, schon alten, aber 
neulich von den Zeitungen aufgefrischten Fall, bei dem man 
genau die beiden Arten der Suggestion sich abspielen sieht, 
deren Mechanismus ich soeben aufgezeigt habe. 
„Das Kind ward von einem andern Kinde erkannt — 
das sich irrte. Die Reihe der unrichtigen Agnoszierungen lief 
nun ab. Und man sah da etwas sehr Merkwürdiges. Am 
Tage nach der Agnoszierung der Leiche durch einen Schüler 
schrie eine Frau auf: ‚Ach, es ıst mein Kind!‘ Man führt sie 
zur Leiche, sie nimmt deren Kleider in Augenschein und kon-
	        
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