Full text: Psychologie der Massen.

Die Massenseele. 27 
statiert eine Narbe an der Stirne. ‚Gewiß,‘ sagt sie, ‚es ist 
mein armer Sohn, der seit dem letzten Tage des Juli abgängig 
gewesen. Man wird ihn mir entführt und getötet haben.‘ 
Die Frau war Hausbesorgerin in der rue du four und hieß 
Chavandret. Man ließ ihren Schwager kommen und dieser 
sagte ohne Zögern: ‚Das ist der kleine Philibert.‘ Mehrere 
Bewohner der Straße erkannten in dem Kinde von la Vilette 
Philibert Chavandret, ganz abgesehen von dessen Schullehrer 
für den die Schulmedaille bestimmend war. Nun: Nachbarn, 
Schwager, Lehrer und Mutter hatten sich geirrt. Sechs Wochen 
später ward die Identität des Kindes festgestellt. Es war ein 
Knabe aus Bordeaux, der dort getötet und nach Paris gebracht 
worden wart). 
Wie man sieht, finden diese Erkennungen meist bei Frauen 
und Kindern, also bei den am meisten erregbaren Wesen statt. 
Sie zeigen zugleich, welch geringen Wert solche Zeugnisse 
bei Gericht haben können. Besonders Kinderaussagen sollten 
niemals in Anspruch genommen werden. Die Richter wieder- 
holen als einen Gemeinplatz die Behauptung, dieses Alter lüge 
nicht. Besäßen sie eine etwas tiefere psychologische Bildung, 
so wüßten sie, daß ganz im Gegenteil in diesem Alter stets 
gelogen wird. Gewiß ist hier die Lüge harmlos, sie bleibt aber 
nichtsdestoweniger eine Lüge. Besser würde die Verurteilung 
eines Angeklagten, wie so oft geschehen, nach dem Spiele 
‚Kopf oder Schrift‘ als nach dem Zeugnis eines Kindes erfolgen. 
Um aber zu den von den Massen gemachten Beobach- 
tungen zurückzukehren, so kommen wir zu dem Schlusse, 
daß die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten sind, die es 
gibt, und daß sie meist nur die Illusion eines Individuums, 
die durch Ansteckung die anderen suggestioniert hat, darstellen. 
Die Tatsachen, welche dartun, daß man gegenüber der Zeugen- 
schaft der Masse das größte Mißtrauen hegen muß, lassen 
sich ins Unendliche vervielfachen. Tausende von Menschen 
  
1) „Eclair“ vom 21. April 1895.
	        
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