Die Massenseele. 33
werden daher von ihnen nur en bloc angenommen oder ver-
worfen und als absolute Wahrheiten oder ebenso absolute
Irrtümer betrachtet. So verhält es sich stets mit den auf dem
Wege der Suggestion, nicht durch Nachdenken erworbenen
Überzeugungen. Man weiß, wie intolerant die religiösen Dog-
men sind und welche despotische Herrschaft sie über die
Geister ausüben.
Da die Masse betrefis des Wahren oder Falschen nicht
im Zweifel ist und zugleich das klare Bewußtsein ihrer Kraft
besitzt, so ist sie ebenso intolerant wie autoritätsgläubig. Das
Individuum vermag Widerspruch und Diskussion zu vertragen,
niemals aber die Masse. In den öffentlichen Versammlungen
wird der leiseste Widerspruch seitens eines Redners sofort mit
Wutgeschrei und groben Schmähungen beantwortet, an die sich,
wenn der Redner fortiährt, leicht Tätlichkeiten und die Ver-
treibung des Redners schließen. Ohne die einschüchternde
Gegenwart der Sicherheitsbehörde würde man den Opponenten
häufig verprügeln.
Autoritätsglauben und Intoleranz sind allen Arten der Masse
gemein, weisen aber verschiedene Grade auf. Und hier kommt
wieder der Grundbegrifi der Rasse, die alles Fühlen und Den-
ken der Menschen beherrscht, zur Geltung. Die Autoritäts-
sucht und Intoleranz sind in besonders hohem Maße bei den
lateinischen Massen ausgebildet, so sehr, daß sie jenes bei
den Angelsachsen so mächtige Gefühl der individuellen Unab-
hängigkeit völlig vernichtet haben. Die lateinischen Massen
haben nur Empfindung für die kollektive Unabhängigkeit der
Sekte, der sie angehören, und es ist für diese Unabhängigkeit
das Bedürfnis charakteristisch, sofort und gewaltsam: alle An-
dersgläubigen ihrem ‘eigenen Glauben zu gewinnen. Bei den
lateinischen Völkern konnten sich, von der Inquisition ange-
fangen, die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem anderen
Freiheitsbegriff aufschwingen.
Autoritätsglauben und Intoleranz sind für die Massen
äußerst klare Empfindungen, die sie leicht erfassen und ebenso
Le Bon, Psychologie der Massen. 3