Die Massenseele. 35
zwar die Namen ihrer Institutionen gern ändern, und zu diesem
Zwecke führen sie zuweilen gewaltige Revolutionen durch,
aber der Kern dieser Institutionen ist zu sehr der Ausdruck
der erblichen Bedürfnisse der Rasse, als daß sie nicht immer
wiederkehren müßten. Die unaufhörliche Wandelbarkeit der
Massen erstreckt sich nur auf ganz äußerliche Dinge. In Wahr-
heit besitzen sie ebenso ursprüngliche Instinkte konservativer
Art wie alle primitiven Wesen. Ihre fetischistische Ehrfurcht
vor der Tradition ist absolut, ihr unbewußter Abscheu vor
allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen zu ändern
vermöchten, wurzelt sehr tief. Hätten die Demokraten die
Macht, über die sie heute verfügen, in der Epoche der Er-
findung der mechanischen Webstühle, der Dampfmaschine, der
Eisenbahnen besessen, so wäre die Realisation dieser Er-
findungen unmöglich oder nur auf Kosten zahlreicher Revo-
lutionen und Metzeleien möglich gewesen. Es trifft sich glück-
lich für den Kulturfortschritt, daB die Macht der Massen erst
dann zu blühen begann, als die großen Entdeckungen der
Wissenschaft und der Industrie bereits da waren.
& 5. Sittlichkeit der Massen.
Verstehen wir unter Sittlichkeit die Beachtung gewisser
sozialer Konventionen und die beständige Unterdrückung der
egoistischen Impulse, dann liegt es auf der Hand, daß die
Massen zu impulsiv und wandelbar sind, um der Sittlichkeit
fähig zu sein. Befassen wir aber unter den Begriff der Sittlich-
keit das momentane Auftreten gewisser Eigenschaften, wie
Entsagung, Ergebenheit, Uninteressiertheit, Selbstaufopferung,
Rechtsgefühl, dann können wir im Gegenteil sagen: die Massen
sind oft eines sehr hohen Maßes von Sittlichkeit fähig.
Die wenigen Psychologen, die sich mit dem Studium der
Massen abgegeben haben, betrachten sie nur im Hinblick auf
ihre verbrecherischen Handlungen. Und da sie die Häufigkeit
dieser Handlungen gewahrten, so betrachten sie die Massen als
auf einem sehr niedrigen Sittlichkeitsniveau stehend.
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