Vorwort. Vu
Man muß demnach bei dem Studium einer sozialen Er-
scheinung dasselbe Ding nacheinander von zwei sehr ver-
schiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Wir sehen also, daß
die Unterweisungen der reinen sehr oft denen der prakti-
schen Vernunft entgegengesetzt sind. Es gibt keine Tatsachen,
auch nicht auf physischem Gebiete, worauf diese Unierschei-
dung sich nicht anwenden ließe. Vom Gesichtspunkte der ab-
soluten Wahrheit aus sind ein Würfel, ein Kreis unveränderliche
geometrische Figuren, welche mittels bestimmter Formeln streng
definiert werden. Für den Gesichtssinn können diese geome-
trischen Gestalten sehr mannigfache Formen annehmen. Die
Perspektive kann in Wirklichkeit den Würfel in eine Pyramide
oder in ein Quadrat, den Kreis in eine Ellipse oder Gerade
verwandeln. Und diese fiktiven Formen sind von viel größerer
Bedeutung als die realen Formen, denn sie sind die einzigen,
welche wir sehen und welche photographisch oder zeichne-
risch sich reproduzieren lassen. Das Irreale ist in gewissen
Fällen. wahrer als das Reale. Es hieße, die Natur deformieren.
und unkenntlich machen, wollte man die Dinge in ihren exakt
geometrischen Formen vorstellen. In einer Welt, deren Be-
wohner die Dinge nur, ohne sie berühren zu können, abzu-
bilden oder zu photographieren vermöchten, würde man nur
sehr schwer zu einer exakten Vorstellung ihrer Form gelangen,
und die Kenntnis dieser Form, die nur einer geringen Anzahl
von Gelehrten zugänglich wäre, würde nur ein sehr schwaches
Interesse erwecken.
Der Philosoph, der die sozialen Erscheinungen studiert,
muß sich vor Augen halten, daß dieselben neben ihrem theo-
retischen auch einen praktischen Wert haben und daß der
letztere vom Gesichtspunkte der Kulturentwicklung der einzig
bedeutsame ist. Dies muß ihn gegenüber den Folgerungen,
welche die Logik ihm zunächst darzubieten scheint, sehr auf
der Hut sein lassen.
Zu solcher Reserve veranlassen ihn noch andere Beweg-
gründe. Die Kompliziertheit der sozialen Tatsachen ist eine