Die Massenseele. 37
in denen sie sich ebenso leicht niedermetzeln ließen wie die
durch den vom Jäger gehandhabten Spiegel hypnotisierten
Lerchen.
Selbst ausgemachten Schuften verleiht oft das Zusammen-
sein in der Masse für den Augenblick sehr sittliche Grundsätze.
Taine zeigt, daß die Menschenschlächter der Septembertage
die Brieftaschen und Schmuckstücke, die sie bei ihren Opfern
vorfanden und die sie leicht hätten an sich nehmen können,
bei den Ausschüssen niederlegten. Die heulende, elende Volks-
masse, die in der Revolution vom Jahre 1848 die Tuilerien be-
setzte, nahm nichts von den Gegenständen, die sie blendeten
und von denen ein jeder das Brot für viele Tage bedeutet hätte.
Diese Versittlichung des einzelnen durch die Masse ist
gewiß keine stete, aber doch eine häufig stattfindende Regel.
Selbst in Verhältnissen, die viel weniger ernst als die von
mir angeführten sind, ist sie zu konstatieren. Wie ich bereits
sagte, verlangt im Theater die Masse vom Helden des Dramas
übertrieben hohe Tugenden, und die alltägliche Beobachtung
zeigt, daß selbst eine aus niedrigen Elementen bestehende
Zuhörerschaft sich allgemein als sehr prüde erweist. Der Lebe-
mann, der Aushälter, der spottsüchtige Gassenjunge murren oft
bei einer etwas gewagten Szene oder einer schlüpfrigen Rede,
die doch im Vergleiche mit ihren üblichen Unterhaltungen recht
harmlos ist.
Frönen also die Massen oft niedrigen Instinkten, so bieten
sie oft wieder auch ein Beispiel hochsittlichen Handelns. Sind
Uneigennützigkeit, Entsagung, absolute Hingebung an ein uto-
pisches oder lebensvolles Ideal sittliche Tugenden, dann kann
man sagen, die Massen besitzen diese Tugenden oft in so
hohem Maße, wie es bei den weisesten Philosophen selten
erreicht worden ist. Gewiß üben sie diese Tugenden unbe-
wußt aus, aber das tut nichts. Beklagen wir es nicht zu sehr,
daß die Massen wesentlich durch das Unbewußte sich leiten
lassen, und räsonnieren wir nicht darüber. Hätten sie zu-
weilen nachgedacht und ihre augenblicklichen Interessen zu Rate