Die Massenseele. 39
denen unsere Väter lebten, immer mehr ins Wanken. Sie
haben alle Festigkeit eingebüßt, und zugleich zeigen sich die
auf ihnen beruhenden Institutionen völlig erschüttert. Täglich
bilden sich viele jener kleinen Ideen, von denen ich eben sprach;
nur wenige von ihnen aber scheinen zu wachsen und einen
überwiegenden Einfluß gewinnen zu wollen.
Welcher Art auch die den Massen suggerierten Ideen sein
mögen, sie können nur zur Herrschaft gelangen, wenn sie
eine ganz bestimmte und einfache Gestalt annehmen. Sie stellen
sich dann als Bilder dar und sind den Massen nur in dieser
Form zugänglich. Diese Vorstellungsbilder sind miteinander
durch kein logisches Band der Analogie oder Sukzession ver-
bunden; sie können einander vertreten wie die Gläser einer
Laterna magica, die der Experimentator der Schachtel, in der
sie übereinander geschichtet waren, entnimmt. Aus diesem
Grunde kann man bei den Massen die entgegengesetzten Ideen
nebeneinander sich erhalten sehen. Wie es der Augenblick
mit sich bringt, ist die Masse einer der verschiedenen in ihrem
Intellekt aufgespeicherten Ideen ausgesetzt und kann dem-
zufolge die verschiedenartigsten Handlungen begehen. Ihr
völliger Mangel an kritischem Geist läßt sie die Widersprüche
nicht gewahren.
Das ist aber kein den Massen ausschließlich eigenes Phä-
nomen, es findet sich auch bei vielen isolierten Individuen,
nicht bloß beim primitiven Menschen, sondern auch bei allen,
die durch eine Seite ihres Geistes — wie etwa die Anhänger
eines starken religiösen Glaubens — den Primitiven sich nähern.
Ich habe es in erstaunlichem Grade bei gelehrten Hindus, die
an europäischen Uhiversitäten studierten und promovierten,
konstatiert. Auf der festen Grundlage ihrer ererbten religiösen
oder sozialen Ideen hatte sich, ohne dieselben zu stören, ein
Grundstock abendländischer Anschauungen ohne Verwandt-
schaft mit jenen aufgeschichtet. Je nach den Zufälligkeiten
des Augenblicks kamen bald die einen, bald die anderen samt
ihrem besonderen Gefolge von Handlungen oder Reden zum