Die Massenseele. 45
für den geistigen Zustand der Massen und besonders für die
Leichtigkeit, mit der man ihnen etwas suggeriert. Das Unwirk-
liche beeinflußt sie fast ebenso stark wie das Wirkliche. Sie
haben die sichtliche Tendenz, zwischen beiden keinen Unter-
schied zu machen.
Auf die Phantasie des Volkes gründet sich die Macht der
Eroberer und die Kraft der Staaten; auf sie besonders muß
man wirken, will man die Massen mitreißen. Alle bedeutenden
geschichtlichen Ereignisse, die Entstehung des Buddhismus, des
Christentums, des Islam, der Reformation, der Revolution und
in der Gegenwart der drohende Einbruch des Sozialismus, sind
die unmittelbaren oder entfernten Folgen starker Eindrücke auf
die Massenphantasie.
Es haben denn auch die großen Staatsmänner aller Zeiten
und Länder, inbegriffen die absolutesten Despoten, in der
Volksphantasie die Basis ihrer Macht erblickt, und sie haben
niemals versucht, gegen sie zu regieren. „Ich habe‘, sagte
Napoleon zum Staatsrate, „den Krieg in der Vendee beendigt,
indem ich katholisch wurde, in Ägypten habe ich Fuß gefaßt,
dadurch, daß ich mich zum Muselmann machte, und die italie-
nischen Priester gewann ich, indem ich ultramontan wurde.
Würde ich über ein jüdisches Volk herrschen, so würde ich den
Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassen.‘‘ Seit Alexander
und Cäsar hat vielleicht niemals ein großer Mann besser ge-
wußt, wie auf die Massenphantasie Eindruck zu machen ist;
Napoleons ständige Sorge war, sie zu erregen. Darauf sarın er
in seinen Siegen, seinen Reden, seinen Abhandlungen, seinen
Handlungen — und noch auf seinem Totenbett.
Wie macht man auf die Massenphantasie Eindruck? Wir
werden es gleich sehen. Einstweilen sei nur gesagt: es ge-
schieht niemals durch den Versuch, auf Verstand und Vernunft,
d. h. durch Logik zu wirken. Nicht mittels einer gelehrten
Rhetorik vermochte Antonius das. Volk gegen die Mörder Cäsars
aufzuwiegeln, sondern dadurch, daß er ihnen Cäsars Testament
vorlas und ihnen Cäsars Leichnam zeigte.