Die Massenseele. 47
4. Kapitel.
Die religiösen Formen der kollektiven Überzeugungen.
Wir haben dargetan, daß die Massen nicht logisch schließen,
daß sie vielmehr Ideen als Ganzes annehmen oder verwerfen,
weder Diskussion noch Widerspruch dulden, und daß die auf
sie einwirkenden Suggestionen die Sphäre ihres Verständnisses
völlig in Anspruch nehmen und sogleich in Handlungen sich
umzusetzen streben. Wir haben gezeigt, daß die gehörig sug-
gestionierten Massen bereit sind, sich für das ihnen sugge-
rierte Ideal zu opfern. Wir sahen auch, daß sie nur heftige und
extreme Gefühlsausdrücke kennen, daß bei ihnen die Sympathie
rasch zur Anbetung wird und daß sie sich, kaum entstanden, in
Haß verwandelt. Diese allgemeinen Angaben lassen uns schon
die Art ihrer Überzeugung ahnen.
Die nähere Untersuchung der Überzeugungen der Masse,
wie sie ebenso in den Zeiten des Glaubens als in den großen
politischen Erhebungen etwa im vorigen Jahrhundert auftreten,
ergibt, daß diese Überzeugungen stets eine besondere Form
annehmen, die ich nicht besser zu bestimmen vermag, als durch
den Namen des ‚religiösen Gefühls.
Dieses Gefühl besitzt sehr einfache Merkmale: Anbetung
eines vermeintlichen höheren Wesens, Furcht vor der ihm zu-
geschriebenen magischen Gewalt, blinde Ergebung unter dessen
Befehle, Unfähigkeit zur Diskussion über dessen Dogmen,
Streben nach deren Verbreitung, Tendenz, jene als Feinde zu
betrachten, die sie nicht annehmen. Ein solches Gefühl mag sich
auf einen unsichtbaren Gott, auf ein steinernes oder hölzernes
Idol, auf einen Helden oder auf eine politische Idee richten,
sobald es die angeführten Merkmale aufweist, ist es religiösen
Charakters. Das Übernatürliche und das Wunderbare finden
sich hier in gleichem Maße. Die Massen bekleiden unbewußt
die politische Formel oder den siegreichen Anführer, der sie für
den Augenblick zur Schwärmerei verführt, mit einer mystischen
Gewalt.