Die Massenseele. 49
gewährt hat Es wäre unerklärbar, daß dreißig Legionen
des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam
haben zwingen können.‘ Sie gehorchten, aber nur, weil der
Kaiser, der die Größe Roms repräsentierte, einmütig als Gott
verehrt wurde. Im kleinsten Flecken des Reiches besaß der
Kaiser seine Altäre. ‚In jener Zeit sah man von einem Ende
des Reiches zum andern in den Seelen eine neue Religion er-
stehen, deren Gottheiten die Kaiser selbst waren. Einige Jahre
vor der christlichen Ära errichtete ganz Gallien, welches durch
sechzig Städte repräsentiert ward, dem Augustus gemeinsam
einen Tempel bei Lyon Seine Priester, die von der Gesamt-
heit der gallischen Städte gewählt wurden, waren die ersten
Persönlichkeiten ihres Landes Es ist unmöglich, dies alles
der Furcht und knechtischen Unterwürfigkeit zuzuschreiben.
Ganze Völker sind nicht knechtisch, und sie sind es nicht drei
Jahrhunderte lang. Nicht die Höflinge verehrten den Fürsten,
sondern Rom; nicht Rom allein, sondern auch Gallien, Spanien,
Griechenland und Asien.‘
Heutzutage besitzen die meisten der großen Seeleneroberer
keine Altäre mehr, wohl aber Statuen oder Bilder, und der
Kultus, den man mit ihnen treibt, ist von dem ihnen dereinst
erwiesenen nicht erheblich verschieden. Die Philosophie der
Geschichte versteht man erst dann ein wenig, wenn man sich
von diesem Angelpunkt der Massenpsychologie recht über-
zeugt hat. Für die Massen muß man entweder ein Gott oder
nichts sein.
Man glaube nicht, es seien dies nur abergläubische An-
schauungen einer anderen Zeit, die die Vernunft endgültig
verscheucht hat. In seinem ewigen Kampfe mit der Vernunft
ward das Gefühl niemals besiegt. Wohl mögen die Massen
die Worte der Gottheiten und der Religion, denen sie so lange
Zeit dienten, nicht mehr hören, aber sie haben zu keiner Zeit
so viel Fetische besessen als seit hundert Jahren, und niemals
haben sich die alten Gottheiten so viele Statuen und Altäre
errichten lassen. Wer in den letzten Jahren die unter dem
Le Bon, Psychologie der Massen. 4