Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 57
Die Zeit vornehmlich bereitet die Anschauungen und Über-
zeugungen der Massen, d. h. den Boden, auf dem sie keimen,
vor. Das ist der Grund, warum gewisse Ideen nur zu einer
bestimmten Zeit, nicht zu einer anderen realisierbar sind. Die
Zeit ist es, was jene ungeheuren Trümmer von Glaubens-
inhalten und Gedanken anhäuft, auf denen die Ideen einer
Epoche erwachsen. Nicht durch Zufall und Ungefähr keimen
sie, die Wurzel einer jeden reicht in eine weite Vergangenheit.
Blühen sie, so hatte die Zeit ihre Blüte vorbereitet; um ihren
Ursprung zu erfassen, muß man stets zurückgehen. Sie sind
die Töchter der Vergangenheit und die Mütter der Zukunft,
stets aber die Sklavinnen der Zeit.
So ist denn die Zeit wahrhaft unsere Lehrerin, und man
braucht sie nur walten zu lassen, um alles sich umwandeln zu
sehen. Wir sorgen uns heute stark ob der drohenden Ansprüche
der Massen, der von ihnen angekündigten Umstürze und Um-
wälzungen; die Zeit allein wird uns das Gleichgewicht wieder
herstellen. „Keine Ordnung“, schreibt treffend Lavisse, „ist an
einem Tage erstanden. Die politischen und sozialen Organi-
sationen sind Werke, die Jahrhunderte erfordern; der Feudalis-
mus bestand jahrhundertelang formlos und chaotisch, bevor er
seine Regelung erfuhr; die absolute Monarchie existierte eben-
falls durch Jahrhunderte, bis sie reguläre Herrschaftsmittel fand,
und es gab großen Wirrwarr in dieser Übergangszeit.‘
8 4. Die politischen und sozialen Institutionen.
Der Gedanke, Institutionen könnten sozialen Übeln steuern,
der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkomm-
nung der Verfassungen und Regierungen, und die sozialen Um-
wandlungen könnten durch Dekrete sich vollziehen, dieser Ge-
danke ist noch sehr verbreitet. Die französische Revolution
nahm ihn zum Ausgangspunkte, und die sozialen Theorien der
Gegenwart stützen sich darauf.
Die fortgesetzten Erfahrungen vermochten es nicht, diesen
schrecklichen Wahn ernstlich zu erschüttern. Die Philosophen