Anschauungen und Überzeugungen der Massen. 75
und Bildern in den lateinischen als in den angelsächsischen
Seelen. Bei den Lateinern bedeutet das Wort Demokratie be-
sonders das Zurücktreten des Willens und der Initiative des
Individuums vor der der Staatsgemeinschaft. Der Staat soll
immer alles leisten, alles zentralisieren, monopolisieren und
fabrizieren. An ihn appellieren beständig alle Parteien ohne
Ausnahmen: Radikale, Sozialisten, Monarchisten. Bei den
Angelsachsen, namentlich den Amerikanern, bedeutet dasselbe
Wort im Gegenteil die intensive Entfaltung des Willens und
der Individualität, das möglichste Zurücktreten des Staates,
den man mit Ausnahme der Polizei, des Heeres und der diplo-
matischen Beziehungen nichts leiten läßt, nicht einmal den
Unterricht. Dasselbe Wort also, welches bei dem einen Volke
das Zurücktreten des Willens und der Initiative des Indivi-
duums sowie die Vorherrschaft des Staates bedeutet, bedeutet
bei dem anderen die starke Entfaltung dieses Willens, dieser
Initiative und das völlige Zurücktreten des Staates!), hat also
einen absolut konträren Sinn.
8 2. Die Illusionen.
Seit der Morgenröte der Kultur waren die Massen allezeit
dem Einflusse der Illusionen ausgesetzt. Den Erzeugern von
Ilusionen haben sie die meisten Tempel, Statuen und Altäre
errichtet. Religiöse Hlusionen in der Vorzeit, philosophische
und soziale Illusionen in der Gegenwart — stets finden sich
diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Zivili-
sationen, die nacheinander auf unserem Planeten blühten. In
ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldäas und Ägyptens,
die Kirchenbauten des Mittelalters empor, in ihrem Namen
ward ganz Europa vor einem Jahrhundert umgestürzt, und
nicht eine einzige unserer künstlerischen, politischen oder
sozialen Anschauungen gibt es, die nicht ihren mächtigen
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1) In den „Psychologischen Gesetzen der Völkerentwicklung‘ habe
ich diesen Unterschied, der das demokratische Ideal der Romanen von
dem der Angelsachsen scheidet, ausführlich behandelt.