Anschauungen und Überzeugungen der Massen. sl
zu führen. Töchter des uns leitenden Unbewußten, waren diese
Chimären sicherlich notwendig. Jede Rasse birgt in ihrer
Geistesverfassung die Gesetze ihres Geschicks, und vielleicht
sind es diese Gesetze, denen sie sogar in ihren scheinbar un-
vernünftigen Impulsen vermöge eines unbesieglichen Instinkts
gehorcht. Oft scheinen die Völker geheimen Kräften unter-
worfen zu sein, jenen analog, die die Eichel zur Umformung in
die Eiche, den Kometen zur Einhaltung seiner Bahn zwingen.
Das wenige, was wir von diesen Kräften erkunden können,
muß auf dem allgemeinen Wege der Entwicklung eines Volkes,
nicht aber in den isolierten Tatsachen, aus denen diese Evo-
lution sich zuweilen zu ergeben scheint, gesucht werden. Würde
man diese isolierten Tatsachen betrachten, so erschiene diese
Geschichte von unwahrscheinlichen Zufällen beherrscht. Un-
wahrscheinlich war es, daß ein unwissender Zimmermann aus
Galiläa zweitausend Jahre hindurch zu einem allmächtigen Gott
werden konnte, in dessen Namen die bedeutendsten Zivili-
sationen begründet wurden; unwahrscheinlich auch, daß einige
arabische Horden, die ihre Wüste verließen, den größten Teil
der alten griechisch-römischen Welt zu erobern vermochten;
unwahrscheinlich endlich, daB in einem sehr gealterten und
sehr hierarchisierten Europa ein obskurer Artillerieleutnant es
zuwege brachte, über eine Masse von Völkern und Königen zu
herrschen.
Überlassen wir also die Vernunft den Philosophen, aber
verlangen wir nicht von ihr, in der Regierung der Menschen
eine zu große Rolle zu spielen. Nicht vermöge, sondern sehr
oft trotz der Vernunft sind Gefühle wie Ehre, Entsagung,
religiöser Glaube, Ruhmes- und Vaterlandsliebe, bis heute die
großen Quellen aller Kultur, entstanden.
3. Kapitel.
Die Führer der Massen und ihre Überzeugungsmittel.
Die Geistesverfassung der Massen ist uns jetzt bekannt,
und wir kennen nun auch die Kräfte, die auf ihre Seele zu
Le Bon, Psychologie der Massen. 6