3. Kapitel. Die Wirkungen des vervollkommneten Verkehrswesens. 49
schied müssen sich der gleichen Uberwachung unterwerfen und den
bahnpolizeilichen Vorschriften fügen. Die Standesunterschiede treten hier
vollständig zurück. Abnliches wiederholt sich im Strabenbahnverkehr.
Diese Verkehrsmittel werden überaus stark in Ansprauch genommen. In
Deutschland wurden 1909 auf vollspurigen Staats- und Privatbahnen
1470 Millionen Menschen, d. h. über das zwanzigfache der deutschen Be-
völkerung, auf Straßenbahnen 2137 Millionen, d. h. über das dreißigfache
der deutschen Bevölkerung befördert. Berücksichtigt man das, so wird
es klar, daß diese Wirkung sich auf das gesamte gesellschaftliche Leben
übertragen muß. Dem heutigen Verkehrswesen gegenüber sind die
früheren Vorrechte und Vorurteile einzelner Stände tatsächlich nicht
mehr aufrecht zu erhalten gewesen, und ohne diesen Umstand würden
die alten Ungleichheiten sich selbst nach ibrer rechtlichen Beseitigung
noch viel länger und viel stärker bemerkbar gemacht haben. Eine voll-
ständige Abschleifung der Unterschiede in der Bevölkerung hat freilich
dadurch nicht stattgefunden; die Unterschiede des Besitzes und der
Bildung bleiben tatsächlich bestehen und haben vielleicht noch größere
Bedeutung als sonst. Diese Unterschiede aber sind der Entwickelung
förderlich, wenn sie nicht übertrieben werden.
8 4. Die Wirkungen für das geistiqge und sittliche Leben. PFür
den Bildungsstand des Volkes hat das heutige Verkehrswesen eine hohe
Bedeutung. Das schnellere und billigere Reisen erleichtert es einer weit
größeren Zahl von Menschen, die Welt zu sehen, sich an den Einrichtungen
und Anschauungen anderer Gegenden fortzubilden und den Brennpunkten
des geistigen Lebens zuzuströmen. Der verbesserte Nachrichtenverkehr
bringt alles Wissenswerte aus allen Gegenden zur Kenntnis weiter Kreise.
Die Presse, deren große Verbreitung nicht zum mindesten den heutigen
Verkehrseinrichtungen zu danken ist, führt der breiten Masse fortgesetzt
eine Fülle von Bildungsstoff zu; die technischen Fortschritte, die Er-
gebnisse wissenschaftlicher Forschung durchmessen rasch die ganze Welt.
Das ganze geistige Leben des Volkes wird so regsamer und frischer,
und alle Schichten der Bevölkerung sind — wenn auch in verschiedenem
Grade — an dieser Wirkung beteiligt.
Aber auch bier machen sich unliebsame Begleiterscheinungen gel-
tend. Der Wissensstoff wird dem einzelnen ungeordnet und nicht plan-
mähig zugetragen, ohne dal ihm eine leitende Hand zu Hilfe kommt.
Die Gefahr besteht deshalb, daß sich nicht nur Bildung, sondern auch
dünkelhafte Halbbildung mit allen ihren Nachteilen mehr verbreitet. Das
Heilmittel hiergegen ist ein gut geordnetes Schulwesen in allen Graden,
dessen Benutzung wieder durch das Verkehrswesen weitesten Kreisen
erleichtert wird.
Nicht nur gute und nützliche Anregungen und Belebrungen, auch
das Gift sittlich verderbter Vorgänge und Anschauungen tritt an den
vax DpER Boronr, Verkehrswesen. 2. Aufl. 4