3. Kapitel. Die Wirkungen des vervollkommneten Verkehrswesens. 55
zusperren, wird freilich nicht möglich sein, und soweit sie abgesperrt
werden, wird in der Regel aus anderen Erzeugungsgebieten Ersatz ge-
schaffen werden können. Eine wirkliche Gefährdung der nationalen
Selbständigkeit dürfte also nicht zu befürchten sein. Aber dabß für einen
solchen Staat große Erschwerungen im Kriegsfalle eintreten können, ist
klar. Insbesondere wird seine Schlagkraft bei der Kriegführung da-
durch beeinträchtigt, daß er einen Teil seiner Kriegsmacht dazu ver-
wenden muß, seine Nahrungsmittelzufuhr zu schützen. Eine solche
Einseitigkeit der Entwickelung zu vermeiden, hat jedes große Staats-
wesen Anlab. Aber diese Einseitigkeit ist nicht dem Verkehrswesen als
solchem zuzuschreiben.
In übrigen steigern solche Erwägungen und die durch das neue
Verkebrwesen begünstigte stärkere wirtschaftliche Interessenverknüpfung
das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der friedlichen Beziehungen, und
die Völker leben sich mehr in die Anschauung binein, daß nur die
großen Fragen der nationalen Ehre und Woblfahrt Kriege rechtfertigen
können. Damit werden die Kriege nicht aufhören, aber sie werden im
ganzen seltener. Schon darin liegt ein großer wirtschaftlicher Gewinn.
Dazu kommt, daß das neue Verkehrswesen die schnellere Be-
endigung der Kriege erleichtert. Den Feind ausfindig zu machen und
zu fassen und große Truppenmengen von den verschiedensten Punkten her
zu dem entscheidenden Schlage zusammenzuziehen, ist heute in ganz
anderer Weise möglich als sonst, und im ganzen sind die Kriege der
Kulturvölker kürzer geworden; selbst Kriege, die uns als ein sehr
zähes und hartnäckiges Ringen erscheinen, reichen an die Dauer der
groben Kriege früherer Zeiten nicht binein. Damit verringern sich
aber auch die Leiden und Opfer und Lasten, die der Krieg auferlegt,
und die Wunden, die er schlägt, erschüttern das wirtschaftliehe Leben
nicht in so furchtbarer Weise, als es früher geschah.
Zugleich sind die Menschenmassen, die der Krieg der wirtschaftlichen
Betätigung entzieht, ungleich größer geworden als sonst; das neue Ver-
kehrswesen hat auch hier die Massenbewegung in den Vordergrund ge-
schoben. Das gilt nicht nur für die Kriegszeit selbst, sondern auch für
die Friedenszeiten. Die Möglichkeit rascherer Entscheidung zwingt die
Staaten, auch in Friedenszeiten die Bereitschaft zum Kriege auf das
höchste zu steigern. Jeder Staat mul dahin streben, im Kriegsfalle am
ersten den entscheidenden Schlag führen zu können. Daher denn auch
die fortdauernde Steigerung der Heeresausgaben auf dem europäischen
Festlande. Daß damit Mißstände verbunden sind, ist klar. Aber man
darf doch nicht vergessen, daß sich der weitaus größte Teil der Rüstungs-
ausgaben in Arbeits- und Erwerbsgelegenheit für das eigene Volk um-
setzt, daß der Dienst im Heere gerade für die breiten Volksschichten
eine hobe erzieherische Bedeutung in körperlicher und geistiger Hinsicht