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Preußen eine zweimalige Abstimmung in jeder Kammer mit einem
Zwischenraume von wenigstens 21 Tagen (VU. Art. 107). Was
in diesen erschwerten Formen als Verfassungsnovelle zustande ge—
kommen ist, hat auch seinerseits den Charakter formellen Verfassungs-
rechts. Dieses deckt sich nicht mit dem materiellen Verfassungs-
rechte, den Normen über Faktoren und Funktionen der Staats-
gewalt. Einerseits sind Verfassungsnormen in gewöhnlichen Gesetzen
enthalten, z. B. im Wahlgesetze, andererseits enthalten die Verfassungs-
urkunden auch Verwaltungsnormen, z. B. in den Grundrechten.
II. Ungeschriebenes Recht. 1. Gewohnheitsrecht. Die Er-
fordernisse des Gewohnheitsrechts, wie sie die historische Schule
mustergültig festgestellt hat, sind für alle Rechtsgebiete, also auch
für das Staatsrecht die gleichen. Erforderlich ist eine längere
Übung, ein Herkommen, das beruhen muß auf der Überzeugung,
damit einem Rechtszwange zu gehorchen (opinio necessitatis).
Grund seiner Geltung ist nicht die stillschweigende Zulassung der
Staatsgewalt, sondern die Volksüberzeugung. Da aber das Volk
ein sozialer Organismus, und alles Recht Machtausdruck ist, bildet
das Gewohnheitsrecht den Machtausdruck der herrschenden Klassen.
Ein Verbot derogatorischen Gewohnheitsrechts ist als über das
Vermögen des Staates hinausgehend wirkungslos. Wenn das
Rechtsbewußtsein der modernen Völker sich auch vorwiegend in der
Gesetzgebung ausprägt, so ist doch auch auf deren Gebiete das Ge-
wohnheitsrecht ein das Recht fortbildender Faktor.
2. Die Rechtswissenschaft ist keine Rechtsquelle, selbst nicht
in der höchsten Form der wissenschaftlichen Analogie. Denn sie
schafft keine neuen Rechtssätze, sondern entwickelt nur in Abhängig-
keit von den Rechtsquellen die in dem Gesetze oder dem Gewohn-
heitsrechte verborgen liegenden Rechtsgedanken. Nur mit dieser
Beschränkung ist die Rechtswissenschaft rechtsschöpferisch.
3. Das gemeine und philosophische Staatsrecht. Ein gemeines
deutsches Staatsrecht hat bis über den Untergang des alten
Reiches hinaus bestanden. Denn die deutschen Einzelstaaten waren
Teile eines größeren Ganzen, von dem sie sich allerdings immer
mehr loslösten, das ihnen aber doch vielfach die Normen ihres
öffentlichrechtlichen Zustandes gegeben hatte. Die Auflösung des