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Aus dem positiven Rechte der westeuropäischen Staaten wird
ein System allgemeiner Grundsätze entwickelt, die sich aus dem
Wesen des Konstitutionalismus ergeben sollen. Das Ganze wird als
allgemeines konstitutionelles Staatsrecht bezeichnet. Seine Grund-
sätze sind daher nicht nur eine Entwicklung des positiven Rechts,
sondern auch dazu bestimmt, Zweifel zu lösen, Lücken auszufüllen.
Das allgemeine konstitutionelle Staatsrecht beruht allerdings
nicht mehr auf der vermeintlich überall gleichen Natur des Men-
schen. Indem es von den konstitutionellen Staaten Westeuropas
ausgeht, stellt es sich auf den positiven Boden der Rechtsverglei-
chung. Auf dieser Grundlage wird aber ein allgemeines Wesen
des Konstitutionalismus entwickelt, dessen Lehren ganz im natur-
rechtlichen Sinne über das ursprüngliche geographische Gebiet hinaus
überall da Geltung beanspruchen, wo man überhaupt zum kon-
stitutionellen Systeme übergegangen ist.
Doch die deutschen Staaten haben trotz der Rezeption des
fremden Staatsrechts ihre Eigenart behauptet. Die Erhaltung
des monarchischen Prinzips hat es insbesondere nicht zu dem
parlamentarischen Systeme des Ministerwechsels kommen lassen.
Die letzte große Machtprobe in dieser Hinsicht war der preußische
Verfassungskonflikt von 1862—1866. Damit ist auch das allge-
meine konstitutionelle Staatsrecht gegenstandslos geworden.
Es hat sich gezeigt, daß das deutsche Staatsrecht auf den eigen-
artigen geschichtlichen Grundlagen deutschen Staatslebens erwachsen
ist. Es verträgt daher nicht eine Ergänzung durch Folgerungen,
die einem ganz anderen Ideenkreise des parlamentarischen Staates
angehören.
Da alles menschliche Denken zeitlich und örtlich bedingt ist,
auch der Staat selbst eine wechselnde geschichtliche Erscheinung
bildet, kann eine allgemeine Betrachtung nicht aus abstrakten
Ideen hervorgehen, deren Darstellung dann die Prüfung folgt,
inwiefern der positive Zustand dem Ideale entspricht. Ausgangs-
punkt ist vielmehr nur der geschichtliche Staat. Deshalb ist auch
hier das positive Landes= und Reichsstaatsrecht an die Spitze ge-
stellt. Erst muß man sich die einzelnen Teile des Staates in
ihrem Wesen und Zusammenwirken vergegenwärtigen, ehe man