Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

§ 16 Insbesondere die Verfassungsgesetze. 93 
Mittelalters gemäß war, widerspricht dem Wesen des modernen Staates, 
in dem sich Staatsgewalt und Staatsangehörige als Befehlender und 
Gehorchende, nicht aber als gleichberechtigte Faktoren gegenüberstehen. 
Auch wenn die Verfassung mit Zustimmung einer gewählten Volks- 
vertretung erlassen wird, ist sie kein Vertrag, sondern gleich jedem 
anderen Gesetze eine einseitige Willenserklärung der Staatsgewalt). 
Die preußische Verfassungsurkunde ist nun aber nicht einmal mit 
Zustimmung ciner Volksvertretung erlassen worden. Die ursprüngliche 
sogenannte oktroyierte Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 ist 
ein vom Könige auf Grund seiner damals noch unbeschränkten gesetz- 
gebenden Gewalt erlassenes Gesetz, dessen Revision auf dem ordent- 
lichen Wege der nunmehr verfassungsmäßigen Gesetzgebung allerdings 
sogleich vorbehalten wurde und demnächst auch zustande kamt). Die 
Verfassungsurkunde unterliegt nun zwar der Abänderung im ordent- 
lichen Wege der Gesetzgebung. Diese ist jedoch dadurch erschwert, daß 
der betreffende Gesetzentwurf die gewöhnliche absolute Stimmenmehr- 
heit in beiden Häusern des Landtages bei zwei Abstimmungen erfordert, 
zwischen welchen ein Zeitraum von wenigstens 21 Tagen liegen muß. 
In dieser abweichenden Form für die Abänderung der Verfassungs- 
gesetze beruht einzig und allein ihr Unterschied von anderen Gesetzen. 
Die Verfassungsurkunde und die Novellen zu ihr bilden nun das Ver- 
fassungsrecht im sormellen Sinne. Dieses ist also der Inbegriff der- 
jenigen Rechtsnormen, welche nur in dem erschwerten Wege einer 
Abänderung unterliegen. 
3) Dies erkennt selbst R. v. Mohl a. a. O., S. 71 im Wider- 
spruche mit seiner kurz vorher ausgedrückten Ansicht an, indem er sagt, 
die materielle und rechtliche Gültigkeit einer Verfassungsurkunde beruhe 
lediglich auf ihrem Erlasse durch die zurzeit bestehende gesetzgebende 
Gewalt. 
4!) Daß in einem monarchischen Staate, der von der absoluten 
zur eingeschränkten Monarchie übergeht, nur der einseitige Erlaß des 
Verfassunggesetzes durch den Herrscher, vielleicht nach Beratung mit 
einer zu diesem Zwecke berufenen Volksvertretung die Rechtskontinuität 
wahren kann, daß dagegen konstituierende Nationalversammlungen und 
das Paziszieren von Verfassungen einen Bruch der bisherigen Rechts- 
ordnung bedeute, führt schon Stahl in der ersten Auflage seiner 
Philosophie des Rechts, Heidelberg 1837, Bd. 2, Abt. 2, S. 107 aus. 
Hinsichtlich des Paziszierens geht er dabei wohl zu weit. Denn die 
—* der Volksvertretung hebt die monarchische Entschließung 
nicht auf. s
	        
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