Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

817 Das Gewohnheitsrecht. 101 
diese Gebiete übertragen worden. Die Bestimmungen des A. L.-R. 
über das Gewohnheitsrecht haben also für das Verfassungsrecht An- 
spruch auf unbedingte Geltung in dem ganzen Gebiete der Monarchie. 
Soweit jedoch die Bestimmungen über das Gewohnheitsrecht im 
A. L.-R. sich auf das Verwaltungsrecht beziehen, sind sie ebensowenig 
wie die sonstigen verwaltungsrechtlichen Bestimmungen des A. L.-R. 
auf die rheinischen und gemeinrechtlichen Gebietsteile übertragen wor- 
den. Für das Verwaltungsrecht bestehen also die Bestimmungen des 
rheinischen und gemeinen Rechtes über das Gewohnheitsrecht sort. 
Es ist daher in dem Teile der Rheinprovinz, in welchem rheinisches 
Recht gilt, ein Gewohnheitsrecht nur anzuerkennen, soweit das ge- 
schriebene Recht selbst darauf Bezug nimmt. In den gemeinrechtlichen 
Gebietsteilen ist dagegen eine verwaltungsrechtliche Gewohnheit praeter 
wie contra legem zulässig. 
Diese Verschiedenheit müßte, namentlich wo wie in der Rhein- 
provinz die drei verschiedenen Rechtsgebiete zusammenstoßen, zu den 
schwersten Bedenken Anlaß geben, wenn die Bestimmungen über die 
derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechtes überhaupt praktisch wären. 
Der Gesetzgeber kann jedes entstandene Gewohnheitsrecht vernichten, 
aber das Entstehen nicht im voraus verbieten. Denn die Entstehung 
des Gewohnheitsrechtes ist eine Tatsache. Der Gesetzgeber kann aber 
nie eine Tatsache von vornherein verbieten. Die Begründung der 
Wegeordnung von 1875 erkennt denn auch die Entstehung deroga- 
torischen Gewohnheitsrechtes trotz des gesetzlichen Verbotes an. 
Die historische Schule hatte einst das Gewohnheitsrecht über- 
schätzt, es wird heute anerkannt, daß das Rechtsbewußtsein der modernen 
Völker mit ihrer machtvollen Staatsgewalt sich vorwiegend im Gesetze 
ansprägt. Ueberdies ist das auf dem Boden der Gesellschaft er- 
wachsene Gewohnheitsrecht als sozialer Machtausdruck regelmäßig un- 
gerechter als das Gesetzesrecht. Trotzdem hat das Gewohnheitsrecht 
noch einen weiten Spielraum. Es gilt nicht nur da, wo es kein 
Gesetzesrecht gibt, dann wäre ihm in der Tat nur eine kleine Stätte 
geblieben. Gerade wegen seiner derogatorischen Kraft rankt es sich 
um das Gesetzesrecht, dieses ergänzend, zersetzend und umgestaltend. 
Gewohnheitsrecht, das sich im kleinsten Kreise gebildet hat, wird 
als Observanz bezeichnet, trägt aber im Übrigen alle Kennzeichen 
des Gewohnheitsrechtes an sich.
	        
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