130 Das Verfassungsrecht. 8 21
handelt, so war doch rechtlich für den größten Teil des Staats-
gebietes die Zugehörigkeit zum Reiche noch vorhanden. Erst durch
die Auflösung des Deutschen Reiches im Jahre 1806 wurde der letzte
Schimmer von Abhängigkeit, in dem sich das preußische Königtum
noch vom Reiche befunden hatte, beseitigt, und die vollständige Sou-
veränetät für das ganze Staatsgebiet hergestellt.
Das preußische Königtum war nun aber nicht nur sonverän, es
war auch in der Ausübung der Staatsgewalt keinerlei Beschränkung
unterworsen. Diese Stellung des Königtums änderte sich erst seit
Erlaß der Verfassungsurkunde. Ihr wurde bekanntlich die belgische
Verfassung von 1831 als damals allgemein anerkanntes Vorbild für
eine konstitutionelle Staalsform zugrunde gelegt. Zum zweiten Male
im Laufe eines Jahrhunderts kam eine organische Gesetzgebung über
das preußische Staatsrecht zustande, zum zweiten Male war diese Ge-
setzgebung nicht ursprünglich, sondern eine zum Teil wörtliche Ueber-
setzung eines Staatsrechtes, welches seinen Ausgangspunkt von der
Volkssonveränetät nahm. Wie Wolff ausgegangen war von der natur-
rechtlichen Lehre des Vertragsstaates, so die belgische Verfassungs-
urkunde von der dem Vertragsstaate entsprechenden Sonveränetät des
Volkes, welches dem Könige nur die Ansübung einzelner Hoheitsrechte
überträgt, aber ihn ausdrücklich auf die ihm vom Volke in der Ver-
fassung beigelegten Befugnisse beschränkt. Zum zweiten Male erwies
sich aber auch in Preußen die Machtl der geschichtlichen Entwicklung
stärker als die angenblicklich herrschende politische Strömung. Wie
man die Wolffsche Staatslehre angenommen hatte ohne die Vertrags-
theorie, so das belgische Verfassungssystem ohne die Volkssonveränelät.
Die preußische Verfassungsurkunde erkennt den Satz nicht an, daß
alle Gewalt vom Volke ausgeht, sie läßt es also bei dem geltenden
Rechte, wonach alle Rechte und Pflichten des Staates sich in
dessen Oberhaupte vereinigen. Die prenßische Verfassungsurkunde
beschränkt den König nicht auf die ihm verfassungsmäßig ausdrück-
lich beigelegten Befugnisse, sie überlässt ihm also alle Rechte der Staats-
gewalt, soweit er nicht in der Ausübung einzelner Rechte an gewisse
verfassungsmäßige Formen gebunden ist. Allerdings ist es nicht zu
vermeiden gewesen, daß in den aus der belgischen Verfassung über-
nommenen Teilen der preußischen Verfassungsurkunde auch einzelne
Folgerungen der konstitutionellen Lehre Aufnahme fanden. Diese An-
llänge beschränken sich aber meist nur auf vereinzelte Ausdrücke, wie