Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

8 24 Ministerverantwortlichkeit des gegenwärtigen Rechtes. 149 
Das materielle Strafrecht ist aber gegenwärtig ausschließlich 
Veregelt durch das Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871. Dessen 
Einführungsgesetz vom 31. Mai 1871 8 2 erklärt ein besonderes 
Landesstrafrecht noch für zulässig auf den Gebieten, die nicht 
Gegenstand des Strafgesetzbuches sind, namentlich für die besonderen 
Vorschriften der Preßpolizei-, Post-, Steuer-, Zoll-, Fischerei- 
Jagd-, Forst= und Feldpolizeigesetze, über den Mißbrauch des 
Vereins= und Versammlungsrechtes und über den Holz-(Forst-) 
Diebstahl, und auch von diesen Gebieten sind mehrere gegenwärtig 
der Landesgesetzgebung entzogen. Jedenfalls kann seit Erlaß des 
Reichsstrafgesetzbuches die Landesgesetzgebung keine strafrechtlichen 
Bestimmungen mehr treffen über Verfassungsverletzung, Bestechung 
und Verrat eines Ministers. Die Minister unterliegen in dieser Be- 
ziehung lediglich dem gemeinen Strafrechte (Str.-G.-B. 8 81 Nr. 2 
Verfassungsverletzung, 8 332 Bestechung, 88 87 ff Verrat). 
Das Strafverfahren ist ebenfalls für alle strafbaren Handlungen 
reichsgesetzlich bestimmt in der Strafprozeßordnung vom 1. Februar 
1877. Die Landesgesetzgebung kann ein abweichendes Verfahren nur 
bestimmen in den Fällen, in denen das Reichsrecht ein solches aus- 
drücklich zuläßt (8§ 6 E.-G. zur Str.-Pr.-O.). Unter diesen Aus- 
nahmen ist jedoch die Ministeranklage nicht genannt. 
Endlich fehlt auch ein Gerichtshof für eine Ministeranklage. Die 
Verfassungsurkunde Art. 61 hatte zur Entscheidung über die Anklage 
en obersten Gerichtshof der Monarchie in vereinigten Senaten und, 
solange noch zwei oberste Gerichtshöfe bestanden, beide zusammen be- 
stimmt. Seit dem 1. Oktober 1879 besitzt jedoch Preußen überhaupt 
keinen obersten Gerichtshof mehr, sondern die Gerichtsbarkeit in oberster 
Instanz ist auf das Reich übergegangen. Das zu erlassende Minister- 
verantwortlichkeitsgesetz müßte demnach in den Formen der Ver- 
fassungsänderung einen neuen Gerichtshof zur Entscheidung über die 
Ministeranklage bestimmen. Dies ist jedoch ebenfalls reichsrechtlich 
unzulässig, da § 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes den Grundsatz auf- 
stellt: „Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf seinem ge— 
setlichen Richter entzogen werden.“ 
Die Landesgesetzgebung ist damit in die rechtliche Unmöglichkeit 
versetzt worden, überhaupt ein Gesetz zur Regelung der strafrechtlichen 
erantwortlichkeit der Minister zu erlassen. Insbesondere ist die
	        
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