847 Insbesondere die sogenannten Grundrechte. 295
„Rechte“ keine Ausflüsse der Staatsangehörigkeit sind, bedarf keiner
weiteren Ausführung. Es ergibt sich hieraus, daß die Rechte der
Preußen nicht nur diesen, sondern allen im Inlande lebenden Per-
sonen zustehen. Die Ueberschrift des zweiten Titels der Verfassungs-
urkunde steht also im vollständigen Widerspruche mit seinem Inhalte.
Kein einziges Grundrecht steht den Staatsangehörigen als solchen zu,
Inländer wie Fremde sind dieser sogenannten Rechte in gleicher Weise
teilhaftig.
Ihrem Inhalte nach sind ferner die Grundrechte gar kein Gegen-
stand des Verfassungsrechtes, sondern des Verwaltungsrechtes. Sie
sind zwar enthalten in der Verfassung im formellen Sinne, d. h. in
der Verfassungsurkunde, materiell sind sie aber verwaltungsrechtlicher
Naturö). Sie beziehen sich nicht auf die Gestaltung und die Funk-
tionen des Staatswesens, sondern haben die Ausübung der Staats-
hoheitsrechte seitens der Staatsorgane gegenüber den Untertanen zum
Gegenstande. Die einzige Ausnahme macht der Art. 3, welcher den
Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit betrifft. Gerade dieser
steht aber gegenwärtig nicht mehr in Kraft. Bloß um der unzu-
treffenden Ueberschrift des Titels 2 der Verfassungsurkunde willen deren
Bestimmungen im Verfassungsrechte behandeln, hieße in völlig un-
systematischer Weise in das Verfassungsrecht eine Enzyklopädie des
Verwaltungsrechtes einflechten.
Dazu kommt endlich, daß die überwiegende Mehrzahl der so-
genannten Grundrechte gegenwärtig kein geltendes Recht sind, indem
sie entweder durch das Reichsrecht oder die preußische Landesgesetz-
Zebung aufgehoben, oder die zu ihrer Durchführung in der Ver-
fassungsurkunde vorgesehenen Sondergesetze noch nicht erlassen sind.
Das Reichsrecht hat bekanntlich das gesamte Privat-, Straf= und
Prozeßrecht und größere Teile des Verwaltungsrechtes für sich in
Anspruch genommen. Soweit das Reich von der ihm zustehenden
Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht hat, sind die betreffenden
Bestimmungen der Landesgesetze aufgehoben. Auf diese Weise sind
hinfällig geworden von den Grundrechten die Verfassungsartikel 3
(Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit), 4 (Gleichheit vor dem
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6) Vgl. über den Unterschied von Verfassung im formellen und
materiellen Sinne, Verfassungsurkunde und Verfassungsrecht § 16.