388 Das Verfassungsrecht. 8 59
Staatsrecht hat ihnen jedoch in den verschiedensten Beziehungen eine
Mitwirkung bei der Ausübung der Herrschaft beigelegt. Dadurch
werden sie nicht Teilhaber an der Staatsgewalt, diese steht voll und
ungeteilt einzig und allein dem Könige zu. Der König kann jedoch
als einzelner Mensch die Herrschaft nicht allein ausüben, er bedarf
dazu Organe, die ihr Recht nur von ihm herleiten. Sofern daher
die Staatsangehörigen politische Befugnisse wahrnehmen, sind sie nicht
Objekt, sondern Mittel der Herrschaft. In beiden Eigenschaften ver—
tritt die Volksvertretung die Gesamtheit der Staatsangehörigen. Sie
vertritt sie als Objekt der Herrschaft, indem sie statt ihrer Be—
schwerden über die Art und Weise der Ausübung staatlicher Rechte
der Staatsregierung gegenüber geltend macht. Sie vertritt sie als
Mittel der Herrschaft, indem sie in gewissen Fällen mitwirkt bei Erlaß
staatlicher Anordnungen an die Staatsangehörigen. Letztere Seite tritt
jedoch bedeutend in den Vordergrund. Die Volksvertretung wird da—
mit zum bedeutendsten Staatsorgane.
Die Volksvertretung ist endlich eine Vertretung der Staats—
angehörigen in ihrer Gesamtheit. Sie soll dem ganzen Volke einen
Einfluß auf die wichtigsten staatlichen Maßregeln geben. Man kann
sie daher als einen großen Staatsrat bezeichnen, der dem Herrscher
als Hilfe bei den schwierigen Reichsgeschäften dientt).
Die Volksvertretung ist also ein Organ des Staates ähnlich den
Behörden. Sie unterscheidet sich jedoch von diesen dadurch, daß sie
niemals den Staatswillen selbständig zum Ausdrucke bringen, die
Staatsgewalt ausüben kanns). Was jeder Gendarm oder Weichen—
steller vermag, dazu ist die Volksvertretung nicht imstande. Aufgabe
der Volksvertretung ist es, in den gesetzlich bestimmten Fällen den
Herrscherwillen des Staates in Uebereinstimmung zu bringen mit dem
Willen der Beherrschten, mit dem Volkswillen. Der Volkswille deckt
sich aber nicht mit dem Willen aller Einzelnen, welche das Volk
ausmachen. Die unorganisierte Masse der einzelnen Staatsangehörigen
ist gar nicht imstande, ihrem Willen Ausdruck zu geben. Sie kann
0) Diese Auffassung hat für das englische Staatsrecht eine ge—
schichtliche Berechtigung. Vgl. Gneist, Englisches Verwaltungsrecht,
3. Aufl., Bd. 1, S. 175 ff.; Gnueist, Das englische Parlament, S. 134 ff.
Sie entspricht aber auch in Preußen dem Wesen der Volksvertretung,
nur daß sie nicht wie ein Staatsrat eine bloß beratende, sondern
eine entscheidende Stimme hat.
5) Deshalb ist sie auch nicht im Verwaltungsrechte zu behandeln-