394 Das Verfassungsrecht. § 60
Anordnung soll das Versassungsgesetz nur ausführen. Diese Aus-
führungsgesetze, wie sie an zahllosen Stellen der Verfassungsurkunde,
besonders in deren zweiten Titel vorgesehen sind, bilden aber keinen
Bestandteil der Verfassung im formellen Sinne, sondern sind gewöhn-
liche Gesetze. Wollte man in allen denjenigen Fällen, wo die Ver-
sassungsurkunde den Erlaß eines Gesetzes vorsieht, ein Versassungsgesetz
verstehen, so würde kaum ein Gesetz ergehen können, welches diesen
Charakter nicht hat. Wenn Art. 107 der Verfassungsurkunde für
die Abänderung der Verfassung besondere Formen vorsieht, so darunter
nur Bestimmungen der Verfassungsurkunde selbst oder spätere ab-
ändernde Gesetze, nicht aber bloße Ausführungsgesetze verstanden wer-
den. Eine Veränderung in der Zusammensetzung des Herrenhauses
würde demnach nur dann die Form des Versassungsgesetzes erfordern,
wenn Art. 1 des Gesetzes vom 7. Mai 1853, der die Berufung der
Mitglieder durch den König mit erblicher Berechtigung oder auf
Lebenszeit bestimmt, eine Veränderung erfahren sollte. Eine inner-
halb dieser verfassungsmäßigen Schranken sich haltende Abänderung
der Verordnung vom 12. Oktober 1854 hat dagegen in den Formen
der gewöhnlichen Gesetzgebung zu erfolgen. Ausgeschlossen ist jedoch,
da das Gesetz vom 7. Mai 1853 zur Abänderung der königlichen
Verordnung ausdrücklich ein mit Zustimmung beider Kammern zu
erlassendes Gesetz erfordert, eine bloße Nolverordnung im Sinne des
Art. 63 der Verfassungsurkunde.
Nun ist freilich die Gesetzmäßigkeit der königlichen Verordnung
vom 12. Oktober 1854 selbst und damit die Versassungsmäßiglkeit
der jetzigen Zusammensetzung des Herrenhauses von der Theorie ziem-
lich allgemein bestritten worden.
Außer Betracht können die Einwendungen bleiben, welche sich
darauf stützen, daß die Uebertragung des Verordnungsrechtes mit Ge-
seßeskraft an den König verfassungswidrig sei. Diese Auffassung
beruht im wesentlichen auf der dem prenßischen Staatsrechte fremden
Lehre von der Teilung der Gewalten und nimmt für die Volks-
vertretung ein unveräußerliches Gesetzgebungsrecht in Anspruch. Die
Haltlosigkeit dieser Annahme ist an einem anderen Orte nachzuweisene).
Beachtung verdienen dagegen diejenigen Bedenken, welche in
Frage stellen, ob die Verordnung vom 12. Oktober 1854 die ihr durch
6) Vgl. 8§ 79.